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humedica-Mitarbeiter Sebastian Zausch bloggt über seinen ersten Afrika-Einsatz. Der führt ihn in den westafrikanischen Niger.

Teil 10

Unsere Nigerreise neigt sich langsam dem Ende zu. Viele Eindrücke habe ich schon gewinnen dürfen, über das Land, die Leute und über unsere Projekte. Heute waren wir noch einmal in der humedica-Klinik in Kollo.

„Lass die Dinge, die Du hier siehst, nicht zu nahe an dich herankommen“, wurde mir im Vorfeld der Reise von vielen gesagt. Bisher ist mir das weitgehend gelungen. Heute nicht.

Zu sehen, wie jung manche Mutter hier ist, wie mager manches Kind. Das allein lässt mich nicht kalt. Wenn ich dann aber auf der anderen Seite sehe, mit wie viel Geduld und Hingabe die Mitarbeiter der Klinik sich um die Menschen kümmern, ihnen alles ganz genau erklären, im Zweifel auch wieder und wieder, ist das einfach überwältigend.

Jedes Kind, das in die Klinik kommt, wird zu allererst gemessen und gewogen. Auch wenn es, wie heute, nur wegen der Impfsprechstunde da ist, die einmal in der Woche stattfindet. Kinder, die zu leicht sind, werden vom Arzt untersucht. Der entscheidet dann, wie es weiter geht. In der Regel mit kalorienhaltiger Zusatznahrung, entweder für das Kind oder für die Mutter. So auch heute.

Die Mutter soll das verschriebene Pulver zusammen mit Wasser aufkochen und anschließend in Form von Brei zu sich nehmen, um die Muttermilch damit anzureichern. Etwa eine halbe Stunde später stillt sie dann das Kind. Um den Erfolg zu überprüfen, wird auch die Mutter heute gewogen. In zwei Wochen sollen sie zur Kontrolle wiederkommen.

In der Klinik wird genau Buch geführt, wer, wann, weswegen da ist. Und jeder Fall wird weiter verfolgt. Kommt die Mutter zur Nachsorgeuntersuchung? Hat sich der Zustand des Kindes verbessert?

Siebeneinhalb Kinder hat eine durchschnittliche Familie im Niger, die Bevölkerungszahlen explodieren. Das hatte ich ja bereits berichtet. Die Regierung versucht mit Aufklärungskampagnen zur Familienplanung gegenzusteuern. Verhütung ist im Niger noch immer ein Tabuthema. Viele Frauen kommen deswegen heimlich zur Beratung in die Klinik, erzählt man mir.

Der Niger: Es war mein erster Besuch in Afrika. Das Land hat mich in seinen Bann gezogen. Die Menschen, sie sind so herzlich, haben fast immer ein Lächeln auf den Lippen und zeigen sich sehr aufgeschlossen. Auch wenn mein Französisch nicht perfekt ist – die Kommunikation funktionierte. Ich habe Geduld gelernt. Und viel afrikanische Gelassenheit mitgenommen. Mal sehen, wie lange diese sich in Deutschland hält.

Es gibt viel zu tun im Niger. Schon heute kann man wichtige Weichen für morgen stellen. Die Lebensbedingungen der Menschen ändern sich nicht durch einen großen Knall oder im Handumdrehen. Es sind die vielen, kleinen Initiativen, die immer wieder etwas bewirken und gemeinsam zu etwas Großem werden – wie zum Beispiel die Mutter-Kind-Klinik in Kollo oder die Werkstätten für Menschen mit Behinderung in Maradi. Helfen Sie mit, etwas Großes anzustoßen. Unterstützen Sie unsere Projekte im Niger! Herzlichen Dank.

Teil 9

So, jetzt hat es mich doch noch erwischt. Was ich befürchtet hatte, ist nun eingetreten: Ich bin krank. An irgendetwas habe ich mir den Magen verdorben. Woran, keine Ahnung.

In Afrika muss man immer sehr auf Lebensmittelhygiene achten. Das habe ich gelernt. Das Wasser aus dem Hahn darf man nicht trinken, weil es Keime haben könnte. Bei Wasser aus Flaschen muss man genau hinhören: Macht die Flasche beim Öffnen nicht „Klack“, war sie möglicherweise nicht richtig verschlossen, es könnte jemand einfach Wasser aus der Leitung eingefüllt haben. Auch Salat, rohes Obst und Gemüse sollte man meiden, wenn man nicht weiß, mit welchem Wasser es gewaschen wurde. Und Fleisch sollte man nur essen, wenn es gut durchgebraten ist.

Ich habe versucht, auf all das achtzugeben, habe mir regelmäßig die Hände gewaschen und, auch das habe ich von den Menschen vor Ort gelernt, sogar die Dose vorher sauber gemacht, bevor ich Cola daraus getrunken habe. Manchmal fühlt man sich dabei schon ein bisschen paranoid. Trotzdem: Es hat mich erwischt.

Dabei habe ich es ja noch vergleichsweise gut: Ich habe die wichtigste Medizin dabei. Denn eine Apotheke zu finden, welche die passenden Medikamente führt, ist im Niger gar nicht mal so einfach. Zumal die meisten Nigrer nicht krankenversichert sind und alles, was sie benötigen, selber bezahlen müssen. Medikamente gegen Malaria kosten zum Beispiel zehn Euro. Wenn man, wie die meisten Nigrer, am Tag mit weniger als zwei Euro auskommen muss, ist das viel. Sehr viel. Wenn dann zusätzlich eine medizinische Behandlung bezahlt werden muss, wird krank sein schnell teuer.

Teil 8

Die nigrischen Frauen strahlen auf mich eine Mischung aus Stolz, Selbstbewusstsein und einer respektvollen Distanz aus. Vor allem in den Dörfern, wo sie die Kinder betreuen und den Haushalt organisieren. Man trifft sie an den Brunnen, wo sie das Wasser aus der Tiefe hervorpumpen und anschließend die schweren Kanister nach Hause tragen – häufig gleich mehrere davon. „Eine nigrische Frau muss tough sein“, denke ich mir immer wieder.

Wer hingegen Niamey oder eine der anderen nigrischen Städte besucht, sieht dort meist nur Männer. Sie treffen sich und gehen Geschäften nach. Auch am Steuer von Autos habe ich während meiner Reise durch den Niger nur selten eine Frau gesehen. Immer wieder fallen mir Mädchen auf den vielen Motorrollern auf, die hier durch die Straßen flitzen – aber sie fahren meist als Passagier mit.

Der Niger ist ein vornehmlich muslimisches Land. Eine Frau gibt einem Mann nicht von sich aus die Hand, sondern nur dann, wenn der Mann ihr diese hinhält. Das ist eine der Regeln, die ich bei der Vorbereitung auf diese Reise gelesen habe. Außerdem: Wenn ein Mann auf einer Matte sitzt, wird sich eine Frau nicht auf dieselbe Matte daneben setzen.

Wie angesehen eine Frau ist, steht im Niger häufig im Zusammenhang mit der Zahl ihrer Kinder: im Durchschnitt siebeneinhalb pro Familie. Diese immer im Griff zu haben, dazu gehört schon was! Denn wie überall auf der Welt, haben auch nigrische Kinder oft den Schelm im Nacken sitzen. Die Frauen übernehmen die Kinderbetreuung hier vor allem im Kollektiv.

Ich habe größte Hochachtung vor den nigrischen Frauen. Sie tragen einen wichtigen Anteil dazu bei, dass dieses Land funktioniert. Im Familienkreis, aber auch in Politik und Wirtschaft. Hier engagieren sie sich zunehmend mehr. Noch sind sie zwar deutlich in der Minderheit. Doch während meines Aufenthalts ist mir nicht nur im „Zentrum der Hoffnung“ in Maradi aufgefallen: Die Frauen nehmen ihr Leben selbst in die Hand – auch wenn das bedeutet, dass mitunter weite Wege vor ihnen liegen.

Teil 7

Die Kinder im Niger: ihr Schicksal bewegt mich hier am meisten. Wir sind auf dem Weg zurück in die Hauptstadt Niamey. Auch heute sehen wir wieder viele Kinder auf ihren teils kilometerlangen Fußmärschen zur nächstgelegenen Schule. Diese liegen oft außerhalb der Dörfer, um für möglichst viele Kinder aus verschiedenen Siedlungen erreichbar zu sein.

In Sachen Bildung passiert im Niger viel. Muss es aber auch: Das Land hat die jüngste Bevölkerung weltweit. Das Durchschnittsalter liegt hier bei etwa 15 Jahren. Der Niger leidet an einer Bevölkerungsexplosion. 1960, als das Land von Frankreich unabhängig wurde, lebten hier 3,2 Millionen Menschen. Im Jahr 2017 waren es bereits über 20 Millionen. Die UNO prognostiziert, dass die Bevölkerung bis Mitte des Jahrhunderts auf etwa 68 Millionen Menschen ansteigen wird.

Bildung ist der Schlüssel zu einer besseren Zukunft. Doch muss man sie sich auch leisten können: Viele Kinder müssen im Niger zum Auskommen der Familien beitragen. Während die anderen in der Schule sitzen, bleiben einige in den Dörfern zurück. Die Mädchen helfen den Frauen bei der Hausarbeit, die Jungs den Männern bei handwerklichen Arbeiten in den Hütten. Oder sie sind als Hirten bei den Tieren auf dem Feld.

Jedes Mal, wenn wir einen Tankstopp machen, schart sich eine Traube Händler um unser Auto. Sie bieten uns die verschiedensten Waren zum Kauf an. Auch Kinder arbeiten hier. Ein Junge fällt mir auf, der kalte Getränke in einer Art Kühlbox anbietet. Das sorgt kurzfristig für Geld in der Familienkasse, in die Schule kann er deswegen aber nicht gehen.

Ein anderer Junge hält sich ebenfalls im Umkreis der Tankstelle auf. Er hat eine kleine Silberschüssel dabei, macht uns mit einer Handbewegung begreiflich, dass er Hunger hat. Er scheint regelmäßig hier an der Tankstelle zu stehen. Der Tankwart kennt ihn, akzeptiert seine Anwesenheit eine Weile. Dann scheucht er ihn rüde weg, behandelt ihn wie Luft.

Der Niger ist gefährlich für Kinder. Überall liegt Müll herum, überall lodern offene Feuer. Auch Verbrennungen mit Fett oder Öl kommen häufig vor, berichtet Dr. Israel Ribeiro da Sousa, der Chefarzt der Klinik in Kollo, die humedica gemeinsam mit Hosanna Institut du Sahel betreibt. Die Gesundheitsstation ist ein wichtiger Anlaufpunkt für die Menschen in der Region. Und die Kinder.

Teil 6

Nigrische Steckdosen und ich – eine Hassliebe. Da ich unter anderem hier bin, um die humedica-Projekte mit Fotos und Videos zu dokumentieren, habe ich jede Menge Technik dabei. Das regelmäßige Laden der Akkus erweist sich allerdings als schwierig: Die Steckdosen sind hier nicht selten selbst zusammengebastelt. Oft fällt alles einfach auseinander. Oder die Löcher zum Einstecken sind nicht vorgestanzt. Jetzt aber sind die Batterien voll, es kann losgehen.

Wir sind in Maradi. Heute steht der Besuch einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung an. humedica betreibt sie zusammen mit Hosanna Institut du Sahel und dem Dominikus-Ringeisenwerk.

Menschen mit Behinderung leben im Niger am äußersten Rand der Gesellschaft. Unter den Bettlern stellen sie den größten Anteil, erzählt uns unser Gastgeber. Sie sind allgegenwärtig: in den Dörfern, wo die Autos vorbeikommen und anhalten müssen, aber auch in der Stadt. Haben Menschen mit Behinderung Kinder, dann müssen diese ihre Eltern meist zum Betteln auf die Straße begleiten. Eine Schulausbildung ist dann nicht möglich, die Kinder landen zwangsläufig selbst auf der Straße: Ein Kreislauf.

Diesen Kreislauf will die Werkstatt für Menschen mit Behinderung in Maradi durchbrechen. Als wir ankommen, ist der Hof gefüllt mit Menschen. Da kommt jemand von weit her, aus Deutschland, und interessiert sich für sie. Für sie, für die sich sonst scheinbar niemand interessiert.

Unsere Ankunft hat sich herum gesprochen. Der Hof ist voll mit Rollstühlen, alle reden durcheinander. Es ist laut – und herzlich. Strahlende Gesichter begrüßen uns, sie freuen sich, uns zu sehen. Einige der Menschen hier sind blind oder taub. Die meisten haben Missbildungen oder leiden an den Folgen einer Polio-Erkrankung. Viele sind auf Rollstühle angewiesen. Die Rollstühle, sie erinnern hier eher an handbetriebene, dreirädrige Fahrräder. Mit ihnen bewegen sich die Menschen vor allem auf den dichtbefahrenen Straßen fort. Im Haus helfen dann Krücken oder einfache Rollbretter. Auf letzteren führen sie übrigens hin und wieder mal ganze Fußballspiele durch.

Das „Zentrum der Hoffnung“ bietet den Menschen eine Perspektive. Es bietet ihnen die Grundlage, sich eine eigene Existenz aufzubauen. Die Frauen lernen nähen, die Männer verarbeiten Leder zu Gürteln, Schuhen oder Portemonnaies. Auch Metallbau wird gelehrt, genauso wie das Reparieren von Autos. Es gibt sogar eine selbstgebaute Autowaschanlage, bestehend aus einem Transformator, der Wasserduck erzeugt, und dann dabei hilft, Autos, Motorräder oder eines der vielen kleinen Taxis sauber zu bekommen.

Die Tätigkeiten, welche die Menschen im Zentrum lernen, werden gebraucht im Niger. Neu kaufen ist für die meisten hier unerschwinglich. Also wird repariert, was das Zeug hält. Die meisten Autos, zum Beispiel, die man hier auf den Straßen sieht, stammen aus den neunziger Jahren oder von noch früher. Kaum eines hat keine Beule oder keine Roststelle. Oft kann man anhand von Aufklebern sogar noch erkennen, ob sie früher einmal in Deutschland, Österreich, der Schweiz oder einem anderen europäischen Land herumgefahren sind. Dementsprechend gibt es immer etwas zu reparieren. Und auch Lederwaren und Selbstgenähtes liegen hoch im Kurs.

Die Menschen hier, sie sind eine eingeschworene Gesellschaft. Was sie produzieren, verkaufen sie in der hauseigenen Boutique. Sie unternehmen viel zusammen. Dokumentiert wird all das von dem Mann, welcher „der Fotograf“ genannt wird. Stolz zeigt er uns Fotos von jedem einzelnen Mitglied der Werkstatt. Auch wichtige Ereignisse, wie frühere Besuche von humedica-Mitarbeitern beispielsweise, hat er in Bildern festgehalten. Heute war sein Fotoapparat aber leider kaputt, sonst hätte er mich unterstützen können.

Aktuell findet im Niger ein Umdenken in Bezug auf Menschen mit Behinderung statt. Auch der zuständige Bürgermeister nimmt sich Zeit für einen Besuch im Zentrum und sagt seine Unterstützung zu. Die Menschen wünschen sich noch bessere Startbedingungen für die Zeit nach der Qualifikation. Es ist ein Prozess, der langsam in Gang kommt. Das Zentrum ist ein kleiner Teil davon. Aber ein Wichtiger. Das wird mir bei unserem Besuch dort klar. Die Menschen freuen sich, dass man ihnen etwas zutraut, ihnen die Chance auf ein neues Leben schenkt. Und nicht nur ihnen. Denn nur wenn sie selbst finanziell unabhängig sind, kann der Nachwuchs auch in die Schule gehen – und damit aus dem Teufelskreis der Armut ausbrechen.

Teil 5

Egal, um welche Uhrzeit ich im Niger bisher unterwegs war, es waren immer jede Menge Menschen auf der Straße. Heute nicht. Das muss an der frühen Stunde liegen, zu der wohl auch die Nigrer schlafen. Für uns ging es um 6 Uhr los – mit etwas afrikanischer Gelassenheit und einer Stunde Verspätung.

Also, 4:30 Uhr aufstehen, kurz gefrühstückt und dann – los geht’s. 660 Kilometer sind zurückzulegen. In Deutschland ist das in etwa so weit, wie vom humedica-Hauptsitz Kaufbeuren aus ins Ruhrgebiet. Für mich als Kenner der Strecke über die Autobahn in fünf bis sechs Stunden machbar. Im Niger sind die Dimensionen anders. 660 km von Niamey nach Maradi, das sind hier locker neun oder mehr Stunden. Abhängig davon, wie gut man mit den Buckelpisten klarkommt. Dabei zählt die Straße zwischen den beiden Städten zu den besseren des Landes, soweit ich das beurteilen kann.

Maradi liegt im Süden des Niger, unweit der nigerianischen Grenze und ist die drittgrößte Stadt des Landes. Wir wollen hier ein weiteres Projekt besuchen, das humedica zusammen mit dem Dominikus-Ringeisenwerk und unserem Partner Hosanna Institut de Sahel betreibt. Eine Werkstätte, die Menschen mit Behinderung wieder eine Perspektive gibt.

Hier im Niger kümmert sich kaum einer um sie. Im Gegenteil: An den Ortseingängen fallen mir besonders häufig alte und gebrechliche Menschen auf, die ihre Hand oder eine kleine Schale ausstrecken und betteln – und eben Menschen mit Behinderung.

Aber der Reihe nach. Kaum haben wir die Hauptstadt Niamey verlassen, hängt plötzlich ein Band über die Straße und sperrt sie damit komplett ab: Eine nigrische Mautstation liegt vor uns. Hier müssen wir Geld dafür bezahlen, dass wir die Buckelpiste befahren dürfen. Wir erhalten einen Beleg, das Seil wird heruntergelassen und wir können passieren.

Im Niger wird fast alles mit Bargeld bezahlt – Kartenautomaten sind ganz selten – die Möglichkeit, mit Karte zu bezahlen, noch viel seltener. Den Zettel von der Mautstation werden wir auf dem Weg nach Maradi noch mehrfach brauchen. Denn fast in jedem Ort gibt es so einen Posten mit einem Seil. Wenn man, wie wir, nachweisen kann, die ganze Strecke im Voraus bezahlt zu haben, wird man zügig durchgelassen.

Wir fahren also weiter. Rechts Landschaft, links Landschaft, hin und wieder mal ein Dorf. Die Gegend hier: Sand, Steine, ein paar Bäume. Und das soweit das Auge reicht. Und es reicht weit, denn Berge gibt es hier zwischen Niamey und Maradi kaum. Die Klimaanlage macht die Fahrt zumindest von der Temperatur her erträglicher. Auch wenn sie deutliche Probleme hat, gegen die Hitze anzukommen. Gefühlte Innentemperatur: etwa 30 Grad, außen: 40 Grad.

Plötzlich entdecke ich ein Schild: Nationalpark. Hier soll es die letzten wildlebenden Giraffen in ganz Westafrika geben, steht da. Ich mache meinen Hals lang. „Giraffen sind groß, die kann man hier in der Weite doch gar nicht übersehen“, denke ich. Man kann! Offenbar halten sich die Tiere abseits der Hauptstraße auf, wo sie sich verstecken können – gut für sie, schade für mich.

Dafür entdecke ich andere Tiere. Zum Beispiel eine riesige Kuhherde, die an einem Wasserloch trinkt. Oder eine, die Schatten unter einem Baum sucht. Oder eine, die direkt vor uns die Straße überquert. Überhaupt: Neben den Schlaglöchern muss man auf nigrischen Straßen auf vieles achten – auch auf Tiere. Mal steht eine Ziege mitten auf der Piste, mal ein Esel, dann wieder ein Kamel. Oder eben eine Kuh.

Auch sehr viele Kinder laufen an und auf der Hauptstraße herum: morgens oft auf dem Weg in eine der Dorfschulen, die – den vielen Hinweisschildern zufolge – nur durch die Unterstützung vieler europäischer und amerikanischer Hilfsorganisationen realisiert werden konnten.
Plötzlich müssen wir anhalten. Ein LKW mit einer flachen Ladefläche steht vor uns: Kinder klettern auf die Ladefläche – Schulbus auf nigrisch.

Wenn es keinen Schulbus gibt, sieht man ganze Horden von Kindern morgens und mittags zur Schule oder von dort zurück laufen. Die meisten lachen und freuen sich. Ich habe selten eine solche Lebensfreude gesehen, wie hier im Niger, vor allem bei den Kindern. Und das trotz der ganzen Entbehrungen, mit denen sie – aus europäischer Sicht – konfrontiert sind. Ich bin beeindruckt!

Die durchschnittliche nigrische Familie hat siebeneinhalb Kinder. Der Niger ist das geburtenreichste Land der Welt. Ein Grund, warum es gleichzeitig eines der Ärmsten ist. Die Menschen leben häufig in selbstgebauten Hütten, meist aus Lehm und Stroh oder Wellblech. Dabei sind die Hütten so groß, wie bei uns ein Schlafzimmer. Die ganze Familie lebt hier, das Leben spielt sich draußen ab. Wenn man nachts unterwegs ist, sieht man, dass so mancher auch draußen schläft.

Teil 4

Der neue Tag fängt früh an: sechs Uhr aufstehen, halb sieben Abfahrt. Es geht nach Kollo, einer Stadt mit rund 20.000 Einwohnern, etwa 45 Minuten südlich von Niamey. Hier betreibt humedica zusammen mit Hosana Institut de Sahel eine Gesundheitsstation, die sich vor allem um die Nöte von Müttern und ihren Kindern kümmert.

Ein Teil des Klinik-Teams kommt aus Niamey und so gabeln wir erstmal eine ganze Menge Leute auf, bevor der vollbesetzte Geländewagen die 35 Kilometer Richtung Kollo angeht. Unser Fahrer ist für meine Begriffe etwas schnell auf den engen, schlechten Straßen unterwegs, aber hier im Niger scheint das normal zu sein. Jeder fährt wo und wie er kann. So zumindest der Eindruck. Ordnung im Straßenverkehr, für uns Europäer ist sie hier nur schwer erkennbar. Und doch, das bestätigen uns mehrere Autofahrer, gibt es sie.

In Kollo angekommen, warten schon einige der Frauen vor der Klinik. Manche übernachten sogar hier, um morgens als Erste dran zu kommen, erzählt man uns. Das spricht dafür, dass die Gesundheitsstation bitter nötig ist, in einem Land, das die höchste Geburtenrate der ganzen Welt hat. Gleichzeit ist das Niveau der Gesundheitsversorgung hier in Westafrika nicht im Geringsten mit der in Europa vergleichbar. Eine Krankenversicherung gibt es quasi nicht. Menschen, die stationär in einer Klinik bleiben, müssen ihre Versorgung häufig selbst organisieren, zum Beispiel durch ihre Familie.

Wir bekommen eine kurze Führung durch die kleine Klinik. Mütter mit ihren kranken Kindern kommen hierher, aber auch Schwangere zur Vorsorge oder wenn es Komplikationen gibt. Besonders schwere Fälle werden nach Niamey überwiesen. In allen anderen hilft das Team hier in Kollo. Auch bei der Geburt. Dabei sind zuletzt weder Mütter noch Kinder gestorben – alles andere als eine Selbstverständlichkeit im Niger.

Wir kommen in den Behandlungsraum. Ein siebenjähriges Mädchen liegt hier und weint. Sie hat sich vor ein paar Wochen das ganze Bein verbrannt, an einem der vielen Feuer, die hier im Niger überall brennen. Ihre Verbrennungen leuchten tiefrot, teilweise fast schon weiß. Bewegen kann sie das Knie derzeit nicht. Ob das jemals wieder möglich sein wird? Mir liegt ein Kloß im Hals. Seit dem Unfall kommt sie regelmäßig in die Klinik: zur Nachsorge. Zunächst täglich, jetzt alle drei Tage. Die Behandlung wird noch Monate dauern.

Teil 3

Es ist Vormittag. Yacouba Seydou, Gründer und Chef unserer lokalen Partnerorganisation Hosanna Institut du Sahel, nimmt uns mit zu einem christlichen Gottesdienst. Der Großteil der Menschen im Niger sind Muslime. Nur etwa sieben Prozent der Bevölkerung Christen. Ein Teil von ihnen trifft sich hier in einem unauffälligen Hinterhof. „Hier dürfen die Menschen jeden Sonntag für eine kurze Zeit die Sorgen ihres harten Alltags vergessen“, erzählen mir unsere Gastgeber.

Der Gottesdienst findet im Freien statt, überdacht von einer Art Zelt. Wenn gerade Strom da ist, drehen sich die Ventilatoren und sorgen für ein bisschen Abkühlung. Stromausfälle gehören im Niger jedoch zum Alltag. Als wir im Hof ankommen, hören wir Musik. Die Menschen tanzen und begrüßen uns herzlich. Manche reichen uns die Hand, heißen uns willkommen. Ich habe selten eine so freundliche und entspannte Atmosphäre erlebt.

Im Niger gibt es verschiedene Volksstämme. Sie alle haben ihre eigene Sprache. Nur die wenigsten können lesen und schreiben. Französisch ist in der Theorie die offizielle Amtssprache, die Praxis sieht anders aus. „Wie will man da einen gemeinsamen Gottesdienst feiern?“, frage ich mich. Wie klappt das mit der Verständigung?

Die Gemeinde hat einen eigenen Chor. Das Besondere daran: In ihm singen Mitglieder aller sechs Volksstämme gemeinsam – und zwar Lieder aller ethnischen Gruppen. Die Gottesdienstbesucher tanzen dazu, ebenfalls alle zusammen. Die Atmosphäre, man kann sie schwer beschreiben. Dann irgendwann wird aus der Bibel gelesen. Erst auf Französisch, dann übersetzen Vertreter der jeweiligen Stämme das Gesagte in ihre Sprachen. Ich erfahre, dass die Bibel erst im vergangenen Jahr in die Sprache der Touareg übersetzt wurde. Hättet ihr das gewusst?

Teil 2

Unsere Reise beginnt am frühen Morgen in der humedica-Zentrale. Einen Direktflug in den Niger gibt es von Deutschland nicht. Bei unserer Zwischenlandung im marokkanischen Casablanca dürfen wir schon ein bisschen orientalische Luft schnuppern – auch wenn diese mit der im Niger nicht wirklich vergleichbar ist, wie wir später feststellen.

Bis kurz vor der Landung in der nigrischen Hauptstadt Niamey sieht man kaum ein Licht am Boden. Ein erstes Zeichen dafür, wie dünn besiedelt die Sahara ist, die wir überflogen haben. Und wie wenig Strom es hier gibt, der die Straßen und Wege auf der Erde beleuchten könnte.

Als wir in Niamey aus dem Flugzeug steigen, trifft uns die nächtliche Hitze wie ein Schlag. „Jetzt bin ich da“, denke ich, „jetzt bekomme ich einen Eindruck davon, was mich hier erwartet“. Die Anspannung der Reise und Ungewissheit ist mittlerweile vollkommen der Neugierde gewichen. Mein sorgfältig ausgewähltes Gepäck gibt mir zusätzliche Sicherheit: Sonnenschutz, Mückenspray, Medikamente gegen Durchfall, Erbrechen und Malaria. Auch wenn gerade keine Regenzeit ist und es deshalb nicht so viele Mücken geben sollte – ich will auf Nummer sicher gehen.

Wir werden abgeholt. Ein Mitarbeiter unserer nigrischen Partnerorganisation Hosanna Institut du Sahel wartet bereits auf uns. Umringt von einer Menschenmenge: Jeder möchte gegen „kleines“ Geld unsere Koffer tragen oder uns in die Stadt fahren.

Die Straße, die vom Flughafen wegführt, sie könnte auch irgendwo in Südeuropa sein – ihre besten Jahre hat sie hinter sich. Aber immerhin ist sie noch asphaltiert, auch wenn überall Schlaglöcher sind und der Fahrer deswegen mehrmals abrupt abbremst. Er fährt die Strecke offenbar häufiger und kennt jedes Hindernis.

Am Straßenrand zeichnen sich erste Häuser ab. Vielmehr sind es Hütten, notdürftig aus Lehm oder Holz zusammen gezimmert, manchmal auch aus Plastikplanen. In den seltensten Fällen dürften sie dicht gegen Unwetter sein. „Willkommen in Afrika“, denke ich. Vor ihnen sitzen Menschen, unterhalten sich oder liegen einfach da und schlafen auf dem Boden.

Wir biegen ab. Unvermittelt sind wir auf einer Sandpiste. Rechts und links der Straße steht alles Mögliche. Immer wieder kreuzen unbeleuchtete Fahrzeuge den Weg. Mir fällt ein Junge auf einem Fahrrad auf, etwa acht bis zehn Jahre alt, ebenfalls ohne Licht. „Ganz schön gefährlich“, schießt es mir durch den Kopf. Aber hier im Niger scheint vieles anders zu sein.

Teil 1

50 Grad – Das ist der Temperaturunterschied zwischen dem Allgäu, dem Hauptsitz von humedica, und meinem Reiseziel im westafrikanischen Niger: Minus 10 Grad zeigt das Thermometer zum Zeitpunkt des Reisebeginns im bayerischen Winter. Über 40 Grad sagt die Wetter-App für den Niger voraus, dem Reiseziel meiner Kollegin Johanna und mir. Sie ist seit Kurzem für die Entwicklungszusammenarbeit im Niger verantwortlich und will das Land und die humedica-Projekte sowie unsere Partner vor Ort noch besser kennenlernen. Ich darf sie begleiten.

Unter anderem betreibt humedica zusammen mit einem lokalen Partner hier im Niger eine Mutter-Kind-Klinik, welche der ländlichen Bevölkerung eine gute medizinische Versorgung bietet. Alles andere als selbstverständlich in einem Land, das die UNO als das zweitärmste der Welt bezeichnet.

Der Niger ist ein Binnenstaat und liegt in Westafrika, umgeben von Burkina Faso, Mali, Nigeria, Libyen, Algerien, Benin und dem Tschad. Das Land ist nach dem drittgrößten Fluss des afrikanischen Kontinents benannt, der durch den Südwesten fließt. Es hat ungefähr vier Mal die Fläche von Deutschland und liegt zu einem großen Teil in der Sahara. Der Rest in der ebenfalls sehr trockenen, nur schwer bewirtschaftbaren Sahelzone. Hier lebt die Landbevölkerung davon, was der Boden hergibt – und das ist meist nicht viel. Rund 80 Prozent der Nigrer muss mit umgerechnet weniger als 1,90 Euro am Tag auskommen.

„Wenn Sie am Flughafen der nigrischen Hauptstadt Niamey aussteigen, verlassen Sie Ihre Komfortzone“, steht in einem Dokument, das ich zur Vorbereitung auf die Reise gelesen habe. Es ist mein erster Besuch in Afrika. Was wird mich dort also erwarten? Wie komme ich mit der Hitze klar? Und wie mit dem Essen? Werde ich mich mit den Menschen vor Ort verständigen können? Zwar ist Französisch Landessprache – ein Großteil der Bevölkerung kann aber weder lesen noch schreiben und spricht nur eine der vielen lokalen Sprachen. Ich bin ein bisschen nervös. Vor allem aber neugierig: Das Abenteuer Afrika kann beginnen!