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Lern- und Lehreifer, aber bisher keine Möglichkeit sich weiter zu bilden; Lehrer, die ihren Schülern nur das beibringen können, woran sie sich aus ihrer eigenen Schulzeit noch erinnern können - es klingt unglaublich, ist aber vielerorts noch Realität. So auch in Haiti, wie uns Barbara Schiller, Leiterin der Nothilfeorganisation stART International, von der aktuellen Situation sowie den geplanten Maßnahmen berichtet:

„Es ist früh am Morgen. Der kleine achtjährige Alexandre und dessen Lehrer Melot laufen mit schnellem Schritt über Bergpfade, die kaum breiter sind als sie selbst, bergauf, bergab. Ihr Weg ist weit. Zwei Stunden bringen sie jeden Morgen hinter sich, bevor sie ihre Schule, die in der Senke eines engen Tales liegt, erreichen.

„Schule“ - das ist für die meisten Kinder in Haiti ein Fremdwort - zumal, wenn sie, wie Alexandre und Melot, auf dem Land leben. Denn: „Wer lebt schon auf dem Land?“ Die meisten Haitianer verlassen das Land, überlassen es seinem Schicksal - und ziehen in das große Port-au-Prince, in die Hauptstadt Haitis. Hier hoffen sie, ein besseres Leben, Bildung für die Kinder und eine glückliche Zukunft zu finden.

Die Realität sieht allerdings meist ganz anders aus als diese Träume: Stadt - das heißt für fast alle von ihnen: leben unter einer Plastikplane, in einem Slum, im Gestank von Müll und Kloake, den Gefahren von Gewalt und Krankheiten, wie der gefürchteten Cholera, ausgeliefert.

Für das Schulgeld reicht es so gut wie nie, wodurch die meisten Kinder den größten Teil des Tages ihrem eigenen Schicksal auf den Straßen von Port-au-Prince überlassen sind. Das ist kein glückliches Leben und keine gute Voraussetzung für die Zukunft.

Alexandres Eltern haben sich dazu entschieden, auf dem Land zu bleiben. Sie leben ein bescheidenes, schweres, aber würdevolles Leben. Sie haben eine Kuh, ein paar Hühner und ein bisschen Land, das sie ernährt. Sie haben ein kleines Häuschen und abends, nach getaner Arbeit, sitzen sie zusammen mit ihren Nachbarn und besprechen die Ereignisse des Tages.

Alexandre und dessen Geschwister gehen in die Schule. Das Schulgeld bezahlen die Eltern von dem, was sie erwirtschaften.

Dank Anneliese Gutmann - einer Frau aus Deutschland, die seit über 30 Jahren in Haiti lebt und ihr eigenes Schicksal mit dem Schicksal der Menschen dieser Landgegend verbunden hat - gibt es diese Schule, die inzwischen für über 1.000 Schüler der tägliche Lern- und Lebensort ist.

Auch Lehrer Melot geht jeden Tag in die Schule, um zu unterrichten. Bevor er sich gegen sechs Uhr auf den langen Weg dorthin macht, hat er bereits zwei Stunden Arbeit hinter sich. Denn um zu überleben und das Essen für seine Familie sicherzustellen, muss er vor und nach dem Arbeitstag in der Schule sein Land bestellen. Das ist hart. Oft fällt er am Abend vor Müdigkeit einfach nur auf sein Lager.

Bücher hat Melot nur wenige, er hat keinen Computer oder gar Internet. Das sind Dinge, die es in seinem Leben nicht gibt. Auch in Port-au-Prince war er bisher nur einmal in seinem Leben. Eine Fahrt in die Stadt ist teuer. Das kann sich kaum einer seiner Lehrerkollegen leisten.

Und wo hast Du Deinen Beruf als Lehrer gelernt?“, frage ich ihn. Er schaut mich schüchtern an und errötet. „Das war vielleicht keine gute Frage“, denke ich - und lenke das Gespräch in eine andere Richtung.

Später erklärt mir Anneliese Melots schamhafte Reaktion. „Ja“, sagt sie, „das ist eines unserer großen Probleme! Die Lehrer! Wir haben mehr als 1.000 Schüler, aber unsere Kindergärtner und die meisten Lehrer haben niemals gelernt, Lehrer zu sein. Sie können lesen und schreiben - und bringen ihren Schülern das bei, woran sie sich aus ihrem eigenen Schulunterricht erinnern. Mehr können sie eigentlich nicht leisten. Und dafür schämen sie sich.

Melot ist ein feiner Mensch. Er ist lernbegeistert und an der Welt interessiert. Wie gerne würde er mehr verstehen von Biologie, Physik oder Chemie, vom Umgang mit Krankheiten, von deren Verlauf und Heilungsmöglichkeiten, um dieses Wissen an seine Schüler weitervermitteln zu können. Wie gerne würde er wissen, wie Kinder unterschiedlichen Alters unterrichtet werden können. Aber wie?

Es wäre wirklich schön, wenn er selbst in seinen Sommerferien in die Schule gehen könnte, um mehr über Pädagogik und Gesundheitslehre zu lernen.

Und manchmal werden Träume ja tatsächlich wahr: So treffen sich im Frühjahr 2011 Francesco, der Haiti-Vertreter der Nothilfeorganisation stART International, und Anneliese im Süden Haitis und beschließen, in den Sommerferien ein einwöchiges pädagogisch-therapeutisches Lehrerseminar für das gesamte Kollegium der Schule, etwa 50 Lehrerinnen und Lehrer, zu organisieren.

Das Seminar ist ein voller Erfolg. Es wird studiert, gelacht, Bewegungsübungen werden gemacht und Lehrererfahrungen ausgetauscht - und ein weiteres Seminar wird für denselben Sommer vereinbart und durchgeführt.

Die Kindergartenräume der Schule, die vorher triste Betonwände waren, werden freundlich hell lasiert. Die ersten Veränderungen im Schulalltag halten Einzug.

Für den Sommer 2012 hat sich eine weitere große Landschule der Lehrerfortbildungsinitiative angeschlossen - denn die Schulen hier auf dem Land haben alle dasselbe Problem. Und so gab es im Sommer 2012 für über hundert Lehrer drei weitere Wochen ein Lehrerseminar in den Bergen Haitis, kombiniert mit einem Ferienprogramm für die Kinder.

Dass diese Hilfe möglich war, verdanken stART International und die haitianischen Lehrer und Kinder mitunter der großzügigen Unterstützung von humedica aus Kaufbeuren. Hierfür sagen wir alle noch einmal einen ganz herzlichen Dank.