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Gemeinsam mit fünf weiteren Ehrenamtlichen von humedica, machte sich Ärztin Anna Müller im Oktober auf den Weg nach Südäthiopien, um dort die Mitglieder des noch weitestgehend von der Zivilisation unberührt lebenden Kara-Stamms medizinisch zu versorgen. Mit welchen Herausforderungen und afrikanischen Tugenden sich die 29-Jährige während des zweiwöchigen Einsatzes konfrontiert sah, verrät Sie Ihnen in ihrem persönlichen Rückblick.

„Ich habe freiwillig die Aufgabe übernommen, den Erfahrungsbericht des diesjährigen Kara-Einsatzes in Dus im äthiopischen Omo Valley zu schreiben. Doch wo soll ich anfangen? Wie ich hier im tristen und grauen deutschen Winter sitze, mit einer Tasse Tee auf dem Schoß und dicken Wollsocken an den Füßen, erscheinen die weite äthiopische Steppe, die grünen Hügel mit den meckernden Ziegenherden und die Holzhütten am Horizont unglaublich weit weg. War ich wirklich dort? Es ist, als schreibe ich über eine dritte Person, die vor einem Monat das Abenteuer auf sich nahm und den weiten Weg zum Volk der Kara antrat.

Es ist eine andere Welt, in die man in diesem humedica-Einsatz eintaucht. Es ist eine wunderschöne, bunte, harte, traurige, fremde Welt – diesen scheinbaren Widersprüchen muss man sich bewusst sein, wenn man voll westeuropäischem Elan und der Motivation für gute Taten anreist.

Rücksicht und Achtsamkeit - die Bedeutung eines guten Teams

Für mich war es der erste Einsatz mit humedica. Gerade ein Jahr arbeite ich nun als Ärztin in einem durchschnittlichen Krankenhaus mit durchschnittlichen Patienten und Aufgaben. Da war es für mich besonders wertvoll und hilfreich, ein so starkes Team um mich zu haben. Mit Johanna hatte ich eine tolle Austauschpartnerin für alle medizinischen Belange und Unsicherheiten von jungen Assistenzärzten. Dank Johannes hatten wir zwei stets unseren erfahrenen Afrika-Veteranen hinter uns, der als unfreiwilliger Oberarzt und Freund immer und uneingeschränkt mit Rat und Tat zur Verfügung stand.

In Kinderkrankenschwester Annerose hatten wir unsere unersetzbare Expertin für Pädiatrie und eine fürsorgliche Mutti, zum Beispiel wenn es um die pünktliche Einnahme unserer Malariaprophylaxe ging. Theresa mit ihrer breiten Rettungsstellenerfahrung war zuverlässige Erstversorgerin in allen anfallenden Notfall-Eingriffen und schließlich sorgte Marietta mit ihrer Frohnatur immer für gute Laune und war als OP-Schwester an die blutigen Eingriffe des traditionellen Zahnheilers der Kara gewöhnt.

Das Meiste konnten wir alle von unserer Koordinatorin und Freundin Trudy lernen – sowohl in medizinischer, kultureller, als auch spiritueller Hinsicht. Ob es darum ging Pilz befallene Köpfe zu scheren und mit antibakteriellen Lösungen einzufärben, oder blutige Diarrhoe und die häufig kommunizierten Plagen „Rückenschmerz“ oder „Schmerzen am ganzen Körper“ zu behandeln – Trudy hatte stets ein bewährtes Geheimrezept, abgestimmt auf die besonderen Bedürfnisse und lokalen Gegebenheiten bei den Kara.

Rigoros, aufopfernd und liebevoll, hält Trudy tapfer die Horde aus rund 20 jungen Äthiopiern im Alter zwischen 20 und 40 Jahren, jeder mit unterschiedlichem stammeskulturellem und religiösem Hintergrund, zusammen. Ab und zu kann man da durchaus an dem afrikanischen Verständnis von Zeit und so manchen männlichen Sturköpfen verzweifeln. Schlussendlich ist es aber Trudys unendlichem Einsatz und ihrer ganz besonderen Beziehung zu dem Volk der Kara und dem äthiopischen Personal zu verdanken, dass dieser Einsatz in Dus möglich wird. Das Vertrauen der Menschen in uns als fremdes medizinisches Team, basiert auf dem Vertrauen unserer Koordinatorin gegenüber – nicht umsonst trägt mittlerweile eine kleine Schar von Mädchen wie Jungen in Dus den Namen „Trudy“.

Warum ich unsere Teamstruktur so ausführlich erwähne, hat einen einfachen Grund: Zum einen möchte ich meinen Kollegen für die tolle Zusammenarbeit danken, zum anderen will ich die Wichtigkeit einer guten Team-Atmosphäre und Zusammenarbeit in einem Hilfseinsatz wie bei den Kara betonen. Sicherlich ist dies bei jedem Einsatz ein essentieller Punkt, in Dus aber ist man als Team doch mit besonderen kulturellen, politischen und persönlichen Herausforderungen konfrontiert, die gegenseitige Rücksichtnahme und Achtsamkeit erfordern.

Das Üben von Verzicht und äthiopischer Gelassenheit

Allgemein gilt für die Arbeit vor Ort vor allem: Flexibel sein und sich den Gegebenheiten anpassen. Zum Beispiel, wenn es trotz dem Ende der Regenzeit unvorhergesehen doch wieder zu starken Regenfällen kommt und man trotz Vierradantrieb wieder im Schlamm stecken bleibt. Es brennt unter den Nägeln: Als ambitionierter Helfer will man aktiv werden, in die Dörfer rausfahren, Gutes tun! Doch die afrikanische Mutter Natur machte uns des Öfteren einen Strich durch die Rechnung und so saßen wir schon einmal zwei Tage am Stück in unserer Unterkunft fest.

Dann galt es sich in äthiopischer Gelassenheit zu üben, kreativ zu werden und sich die Zeit mit improvisierten Nahtkursen für die einheimischen Krankenschwestern zu vertreiben. Oder mit dem Archivieren von Patientenakten, dem Aufräumen der Apotheke und mit Ultraschall-Trainings – es sei denn, der Generator fiel aus und es gab mal wieder keinen Strom zum Betreiben des Gerätes. In diesem Fall mussten zwei Mitarbeiter die rund 190 Kilometer in die nächste Stadt Jinka fahren, um neue Batterien für den Generator zu besorgen, nur um dann festzustellen, dass das eigentliche Problem der defekte Starter ist. Hakuna Matata – nimm es wie es kommt und mach das Beste draus.

Auch sich in Verzicht zu üben, haben wir während unseres Einsatzes bei den Kara gelernt. Es gibt kein fließendes Wasser. Das Wasser zum Duschen, Waschen und Trinken kommt direkt aus dem Omo River und wird erst nach Behandlung mit einer traditionellen Wurzel und dem Aufbereitungssystem „Paul“ trinkbar gemacht. Gegessen wird meist mit den Händen, Wäsche gewaschen einmal pro Woche und die Stromversorgung hängt vom eben erwähnten, nicht gerade zuverlässigen Generator ab.

Der Kara-Einsatz kommt mit seinen ganz besonderen Herausforderungen. Wenn man es zulässt, kann man in den zwei Wochen vor Ort über die anfängliche, vor Euphorie und Aufregung rosarote Brille hinausschauen. Dann findet man sich plötzlich in einer Welt aus stammespolitischen Fehden, Sorgen um die nächste Ernte und kulturellen Spannungen wieder. Man sieht sich mit Stürmen und Regengüssen konfrontiert, die einen am Abfahren hindern und einen dadurch der Natur und Gottes Willen ausliefern. Und man erfährt die Ohnmacht, ein kleines Mädchen im Koma nicht retten zu können, obwohl man alles versucht – eine Tochter der Menschen, die man in den wenigen Tagen so lieb gewonnen hat.

Der Einsatz bei den Kara ist weit mehr als ein gewöhnlicher Kurzzeiteinsatz. Er verlangt einem viel ab, setzt viel voraus, lässt mitunter auch zweifeln. Aber er gibt auch viel zurück und erweitert, ja verändert vielleicht sogar den eigenen Horizont.