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Nach zwei Wochen Koordination und Betreuung der humedica-Teams in Haiti, ist Simone Winneg (Kaufbeuren) immer noch erschüttert von dem Ausmaß der Katastrophe. Ihre Gefühle und Gedanken schrieb sie in diesem Bericht nieder.

"Eigentlich denkt man, dass fast zwei Wochen nach dem Beben irgendwie der Schreck nachlässt. Heute bin ich zum ersten Mal durch die am stärksten zerstörten Viertel von Port-au-Prince gefahren und wurde leider eines Besseren belehrt.

Ich habe mir nach den ersten Tagen gedacht, dass es wohl nicht mehr so schlimm werden kann und dass irgendwie alles wieder zur normalen Tageordnung übergehen wird. In unserer Klinik nimmt das Leben seinen Lauf, so etwas wie eine Routine hat sich eingestellt. Leute auf den Straßen haben ihre Aktivitäten wieder aufgenommen, Taxis und Busse fahren wieder und die Kommunikation wird besser, wenn auch nicht wirklich verlässlich.

Doch der erneute Anblick der unermesslichen, unglaublichen Zerstörung hat mir heute wieder den Atem geraubt. Wir fuhren an Plätzen vorbei, wo einst Häuser standen und an denen nun nichts mehr existiert außer großen Schutthaufen.

Was sich darunter verbirgt, wie viele zerstörte Existenzen unter den Trümmern begraben liegen, können wir nur erahnen. Vereinzelt sieht man aber auch noch Menschen in den Trümmern stehen, die noch nach Überlebenden suchen.

Offiziell ist die Suche nach Überlebenden von der Regierung eingestellt worden. Zu gering ist die Wahrscheinlichkeit, dass bis jetzt noch Menschen überlebt haben. Die Hoffnung, noch Menschen zu bergen, ist verschwunden.

Trauer überkommt mich bei den Gedanken an Kinder und Eltern, die ihre ganze Habe und vielleicht auch ihre ganze Familie verloren haben. Ich muss daran denken, wie viele Kinder wir zur Behandlung in unserer Klinik hatten und die von Tante oder Onkel gebracht wurden, weil ihre Eltern beim Beben ums Leben gekommen sind.

Zwischen den Trümmern sieht man wenig freie Fläche. Jeder Quadratmeter wird für aufgespannte Planen verwendet, unter denen Obdachlose nun Zuflucht finden. Der Anblick erinnert nicht an die Hauptstadt eines karibischen Inselstaates, sondern vielmehr an ein afrikanisches Flüchtlingslager.

Für diese Tausenden von Menschen sind Essens- und Wasserverteilungen die einzige Möglichkeit, zu überleben. Auf engstem Raum leben sie zusammen, und wenn ich, wie heute, in einem dieser Camps bin, dann quälen mich die Fragen, die mir die ganze Zeit im Kopf herumspuken, noch stärker:

Wie geht es weiter? Was mag in einem 12-jährigen Jungen vorgehen, der in einem solchen Camp wohnt und gerade sein Heim und seine gesamte Habe verloren hat? Der kleine Benoit erzählt mir in perfektem Französisch, dass er jetzt hier wohnt, mit seiner Mama, weil sein Haus kaputt gegangen ist.

Er geht in die 5. Klasse auf eine weiterführende Schule und freut sich auf den Schulanfang, der aber noch in den Sternen steht. Aus ihm spricht keine Traurigkeit, auch kein Leid, sondern er strahlt geradezu eine seelenruhige Zufriedenheit aus.

Ich frage mich, ob er die Situation verstanden hat, in der er sich befindet. Oder ob er sie gar so genau verstanden hat, dass er glücklich ist noch am Leben zu sein. Aber wie mag es für ihn weitergehen? Was kommt nach dem großen ersten Schreck? Was passiert, wenn die erste Hilfswelle abgeflaut ist, wenn die Ersteinsatz-Teams nicht mehr da sind und die engagierte humanitäre Hilfe sich zurückzieht?

Die halbe Stadt liegt in Trümmern. Und die Gebäude, die noch stehen, sind größtenteils in schlechtem Zustand, so dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit abgerissen werden müssen. Wenn ich durch die Straßen fahre, dann kommt mir immer wieder ein Gedanke: Was wird wohl aus den ganzen Trümmern? Wohin sollen die Menschen, die nun kein Zuhause mehr haben, gehen?

Zelte und Notunterkünfte sind ja für den Moment ausreichend, aber irgendwann müssen die Menschen woanders leben – doch wo? Ihre Häuser stehen nicht mehr und dort, wo sie einst standen, liegen Trümmer, Steine, zerstörte Autos, Möbel und wahrscheinlich noch die Leichen unter den Steinhaufen.

Es wird einem immer wieder schmerzhaft bewusst, wie vergänglich alles ist, was unser Leben so sehr prägt: nach nur 30 Sekunden ist alles, was in Jahrzehnten aufgebaut wurde, zerstört.

Menschen stehen am Abgrund und haben alles verloren. Etwas, das nur so kurz gedauert hat, wird jahrelange Aufbauarbeiten nach sich ziehen. 30 Sekunden, in denen die Erde bebte und damit das Gefüge so vieler Menschen auf Haiti ins Wanken und zum Umsturz brachte. Der Gedanke schnürt mir auch nach zwei Wochen Haiti die Kehle zu."

Liebe Freunde und Förderer, helfen Sie uns mit einer konkreten Spende, die Menschen in Haiti durch langfristige Maßnahmen nachhaltig zu unterstützen:
humedica e.V.
Spendenstichwort „Erdbeben Haiti
Konto 47 47
BLZ 734 500 00
Sparkasse Kaufbeuren

Bitte spenden Sie auch online. Vielen Dank.

Die Hilfsmaßnahmen in Haiti werden in enger Zusammenarbeit mit der Kindernothilfe (Duisburg), World Vision (Friedrichsdorf) und Bild hilft - Ein Herz für Kinder (Hamburg) umgesetzt. Unsere Bemühungen werden darüber hinaus unterstützt von der AIR BERLIN GROUP (Berlin), GAiN Germany e. V. (Gießen), Skandinavische Kindermission, hoffnungszeichen e. V. (Singen), Apotheker ohne Grenzen Deutschland e. V., Deutsches Institut für Katastrophenmedizin (Tübingen) und last but not least von Apotheker helfen - Hilfswerk der Bayerischen Apotheker (München). Auch an dieser Stelle vielen Dank für jede Form der Unterstützung und die hervorragende Zusammenarbeit.