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Die Hilfe für Flüchtlinge in Serbien läuft weiterhin unter Hochdruck. Ein siebenköpfiges humedica-Einsatzteam arbeitet rund um die Uhr an verschiedenen Brennpunkten, um konkrete Unterstützung für die geschwächten Menschen zu realisieren. Wie sich die Situation für die Flüchtlinge in Serbien aktuell darstellt, wissen unsere Einsatzkoordinatoren, die die Hilfe von humedica vor Ort organisieren und in ihrem Blog regelmäßig aus dem Notstandsgebiet berichten.

Ole Hengelbrock: Arbeit im Akkord

(18. November 2015)

„Die Uhr im Auto ist stehengeblieben. Sie klebt auf 07:23 Uhr und tickt nicht eine Minute weiter. Eine Nachtschicht liegt hinter uns und wir sind auf dem Heimweg, irgendwann zwischen einem alten und einem neuen Tag. Entlang sanfter Bergrücken, huschen frühe Nebelgeister über die Felder. Aus ihnen schleicht Müdigkeit in die Gesichter der Mitarbeiter. Die Szenerie wirkt verschwommen.

Hier im Süden Serbiens versorgt humedica nach wie vor Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten. Marietta Strümpfler ist Krankenschwester im aktuellen Team. Die ganze Nacht ist sie in Bewegung. Dazu munter und gut gelaunt. Als OP-Schwester bringt sie viel Erfahrung mit. „Schwierig war gar nichts.“, sagt die Thüringerin lächelnd im Hinblick auf die vielen Kollegen, die ihr begegnet sind. Im Gegenteil, sie hat durch ihren Beruf eine zweite Familie gefunden und ist überzeugt von den jüngeren Generationen.

„Da gibt es viel Gutes und ein gegenseitiges Lernen!“ Die Jungen begeistern die erfahrene Krankenschwester mit Motivation und Schnelligkeit. Doch bei diesen Themen macht auch ihr keiner etwas vor. Die Nächte im serbisch-mazedonischen Grenzstädtchen Presevo sind eine Abfolge aus Patientenaufnahme, Apotheke und Versorgung. Dazu wird heißer Tee gereicht. Lediglich eine Sache kann Marietta einfangen und für einen Augenblick festsetzen: Die dankbaren Blicke und Worte der Menschen, die hier versorgt werden. Dazu bleibt sie kurz stehen. Die Dame in Weiß und die Zeit.

Ansonsten steigert sich ihre Arbeit zum Akkord. Für die vielen Patienten hier ist das ein Segen. „Das liegt in mir.“, erklärt Marietta. Dieses „Das“ ist Kranke zu versorgen. „Diesen Elan habe ich immer schon gehabt. Da bin ich am richtigen Platz.“ Es ist kein glücklicher Zufall sondern Tatkraft, dass sich die Hufeland Klinik Mühlhausen ein halbes Jahrhundert über ihr Engagement freuen durfte.

Mit dem Thema Flüchtlinge kam Marietta bereits früh in Kontakt. Eine nach dem Zweiten Weltkrieg aus Schlesien vertriebene Familie fand in ihrem Elternhaus nicht nur Auf-, sondern Annahme. Die Beziehung zu den neuen Nachbarn gewann eine Gegenseitigkeit, wie sie sagt. Die späteren Erfahrungen sind negativ belastet. „Die Menschen waren jammervoll, als sie aus den Häusern gerissen wurden.“, erinnert sie sich an die Evakuierung der politisch Auffälligen aus dem Sperrgebiet der innerdeutschen Grenze. „Die halbe Klasse war weg, ohne Verabschiedung. Das war ein Schock!“

Umso mehr verwundern ihre ersten Gedanken, wenn jetzt das Wort Flüchtling fällt: „Helfen, ihnen Zusprechen und medizinisch gut versorgen.“. Diese drei Punkte beschreiben den Alltag in unserer Klinik in Serbien recht authentisch. Viele Patienten kommen geschwächt zu uns. Sie sind schwer beladen mit Sorgen. Mit reiner medizinischer Expertise kommt man da nicht weit. Die Begegnung lindert. Die Krankenschwester und der Mensch Marietta Strümpfler ist hier genau richtig am Platz!

Der Drang zu helfen mag als naiv und illusionistisch abgestempelt werden. Das Alte mag überrannt werden vom Drängen der jungen Generationen in eine unermessliche Zukunft. Was bleibt am Ende des Tages? Vielleicht die Gewissheit, dass wir Jungen noch viel zu lernen, zu erfahren und zu tun haben. In Presevo bleiben der Heimweg nach einer Nachtschicht und das Warten auf die nächste Nacht.

Pia Hartmann: Auf Ruhe folgt Chaos

(16. November 2015)

„Lange haben wir nichts mehr geschrieben. Erst hatten wir nichts zu berichten, dann hatten wir keine Zeit mehr dafür.

Tatsächlich war durch einen Streik der griechischen Seefahrt in der letzten Woche, die Weiterreise vieler Flüchtlinge aus Griechenland verhindert. Der Streik dauerte insgesamt vier Tage an, sodass sich unser Standort Presevo urplötzlich in eine leere Geisterstadt verwandelte. Die sonst menschen- und müllüberfüllten Straßen waren leergefegt, nur ein paar Hunde stöberten in den übrig gebliebenen Müllbergen.

Und dann kam es, wie vorauszusehen, umso heftiger. In der Nacht von Sonntag auf Montag wurde die Menschenschlange immer länger, kein Ende war in Sicht und selbst die Polizei hatte die Situation kaum noch im Griff. Die Straßen wurden durch Barrikaden komplett versperrt. Weil diese trotzdem immer wieder umgangen wurden, setzte die Polizei Schlagstöcke ein. Viele Kinder verloren im Chaos ihre Eltern, und mehr als je erreichten psychisch dekompensierte und kollabierte Menschen unsere Klinik, in der wir weiterhin die Nachtschicht belegen.

Da die Menge der wartenden Menschen so groß war, konnten wir auch immer weniger kranken oder geschwächten Personen helfen, die Warteschlange durch die sogenannte „Fast Track“ zu umgehen. Es wurden kaum noch Ausnahmen gemacht und uns blieb nichts anderes übrig, als Hochschwangere und alte Menschen zurück in die Schlange zu schicken. Als in einer Nacht plötzlich die Neuigkeit die Runde machte, dass die Mitarbeiter des Registrierungscamps dieses aus Sicherheitsgründen nicht mehr verlassen dürften, war uns die Wichtigkeit unserer Arbeit „hier draußen" umso bewusster.

Bei all dem Chaos und Elend war es erstaunlich, wie gut die Zusammenarbeit der freiwilligen Helfer funktionierte. So konnten wir etwa viele kranke Kinder und ihre Mütter in die Unterbringung von Save the Children begleiten, wo sie die Nacht im Warmen verbringen konnten. Auch die United Volunteers for Preseovo leisten durch ihre vielen idealistischen und vollkommen selbstorganisierten Helfer eine unglaubliche Arbeit: Sie verteilen Tee, Bananen und Kleidung an die geschwächten Flüchtlinge und standen uns immer wieder bei Übersetzungen in diverse Sprachen zur Seite.

Was mich betrifft, ist der Einsatz in Presevo nun zu Ende. Mein Urlaub ist vorbei, die gewohnte Arbeit ruft wieder. Auf meiner Rückreise im Flugzeug musste ich sehr weinen. Erst mit etwas Abstand wird mir bewusst, was all die Menschen dort durchmachen. Was es bedeuten muss, sein Heimatland und alles was man besitzt hinter sich zu lassen. Geliebte Menschen vielleicht für immer zu verabschieden, um sich hoffnungsvoll in eine bessere, friedliche Zukunft aufzumachen.“

Pia Hartmann: Die Temperatur erreicht jetzt Minusgrade

(3. November 2015)

„Nach unserer Nachtschicht mussten wir heute Morgen zum ersten Mal richtig fest unser Auto kratzen. Die Menschen, die in einem Zelt vor unserer provisorischen Klinik übernachtet hatten, packten gerade ihre Decken zusammen, um sich erneut in die Warteschlange für die Registrierung zu stellen. Es wundert mich nicht, dass so viele Menschen bei diesem kalten Wetter krank werden.

Gut, dass wir neben den Medikamenten auch warme Klamotten, Schuhe und Decken verteilen können. Die meisten Flüchtlinge haben keine Wechselkleidung dabei und reisen nur mit sehr wenig Gepäck. Einige von ihnen tragen lediglich Sandalen, sie haben weder Jacken noch Mützen, und immer wieder sehen wir Säuglinge ohne Socken und Schuhe. Trotz der Kälte sind wir froh, dass das Wetter die letzten Nächte trocken blieb. Auch die nächsten Tage soll es keinen Regen geben.

Trotzdem behandeln wir viele Menschen mit Erkältung und Fieber. Schuld ist das stundenlange Warten bei Minusgraden. Das Schlimme an dieser Situation ist der Gedanke, dass die verfrorenen, verschnupften und fiebrigen Kinder sich nicht einfach in ein Bett legen können, sondern noch tagelang weiterreisen müssen. Von Warteschlange zu Bus, zu Warteschlange zu Zug und wieder in die nächste Schlange… Der Fakt, dass immer mehr Menschen auch an Erbrechen und Durchfall leiden, erschwert ihnen die langen Bus- und Zugfahrten zusätzlich.

Gestern haben wir eine Familie behandelt, die vor drei Tagen beim Übersetzen mit dem Schiff von der Türkei nach Griechenland gekentert ist. Alle vier Töchter waren nun erkältet. Die kleinste von ihnen war gerade einmal zwei Jahre alt und litt an Durchfall und Erbrechen. Sie sah ganz schlapp aus. Die Menschen machen so viel durch!

Insgesamt sind die Flüchtlinge sehr freundlich, zurückhaltend und dankbar über die Behandlung bei uns. Ich selbst schätze den Kontakt zu ihnen sehr und bin froh, einen kleinen, positiven Betrag zu ihrer langen und beschwerlichen Reise beizutragen, und sie doch wenigstens mit ein bisschen Freundlichkeit und einem warmen Herzen in Europa zu begrüßen.

Wir alle sind gespannt wie es weitergehen wird. Die Regierung arbeitet daran, die Bedingungen für die Flüchtlinge zu verbessern, erste Veränderungen können wir schon feststellen. Doch solange sich die Situation nicht grundlegend bessert und wir hier noch gebraucht werden, sind wir dankbar helfen zu können!“

Dieter Schmidt: Folgenschwere Kälte

(26. Oktober 2015)

„Die Nacht war trocken, kein Regen. Gott sei Dank. Doch es war kalt, sehr kalt - und windig. Wie viele Menschen mag es heute Nacht wohl nach Presevo gespült haben? 6000? 8000? Mehr? Eingepackt in T-Shirts, Pullover, Decken und Plastikfolien, versucht sich jeder so gut er kann vor der Kälte zu schützen. Und doch sehen wir viel zu viele, die sich nur mit Flipflops, barfuß und zu dünner Kleidung auf den Weg gemacht haben.

Männer, die am ganzen Körper schlottern. Eine junge Frau, die nur noch durch die stützende Hilfe ihres Mannes in unsere Klinik kommen kann. Kinder, die vor lauter Erschöpfung schlafen, wo immer man sie auch hinlegt und wo immer noch ein kleines Plätzchen frei ist. Meist ist das nur noch auf der Straße oder dem Gehsteig der Fall. Nur wenige haben ein kleines Zelt, das sie vor dem eisigen Wind schützt.

Bei den zwei kleinen, vielleicht zwei und vier Jahre alten Kindern, auf die uns eine Mitarbeiterin der United Volunteers of Presevo aufmerksam macht, ist das nicht der Fall. Unterkühlt und alleine, liege sie nur unter einer Decke. Ihre Eltern sind nicht auffindbar, keiner kennt sie. Wir bringen die Kinder in unsere Gesundheitsstation und legen sie behutsam vor den Heizlüfter, der den Raum warm macht. Endlich findet ein anderer Flüchtling die Mutter und bringt sie zu uns. In ihren Armen liegt ein weiteres Baby.

Sie hatte versucht, sich und ihre Familie zu registrieren, was die unabdingbare Voraussetzung ist, um in einen der Busse Richtung Norden zu gelangen. Dafür stand sie stundenlang in der Schlange der Wartenden. Unser Team half, die Familie der jungen Frau als Notfall zu vermerken, damit sie nicht so lange warten müssen. Jedoch standen noch zwei weitere Mitglieder der Familie allein in der langen Schlage. Zwei Mädchen, vielleicht 15 oder 16 Jahre alt. Die Töchter ihres Bruders…

Sie alle versuchen ein neues Leben zu beginnen. Ein Leben ohne Bomben, Mord und Zerstörung. Wir alle sind aufgefordert, hinzusehen und das beizutragen, was wir tun können, um diesen Menschen zu helfen. Sei es durch Gebet, eine Spende oder durch aktives Tun.“

Christian Vietz: Menschen in Würde begegnen

(23. Oktober 2015)

„Direkt an der Straße auf der die Flüchtlinge warten um sich registrieren zu lassen, haben wir zusammen mit Ärzte ohne Grenzen ein leerstehendes Ladengeschäft als Behandlungszentrum eingerichtet und versuchen so medizinische Hilfe rund um die Uhr sicherzustellen.

Auf den gerade einmal 200 Metern vor unserem Standort drängen sich teilweise bis zu 1.500 Menschen. Zumeist kommen unsere Patienten vor der Registrierung direkt zu uns, manchmal jedoch werden wir gerufen, wenn Menschen, die bereits in der Warteschlange stehen medizinische Versorgung brauchen. So auch im Fall von Muhanad.

Es war circa zwei Uhr morgens, als uns die Hilferufe aus der Menschenmasse erreichten. Mit der Unterstützung eines Übersetzers wurde schnell klar, dass er Probleme mit seinen Füßen hatte, die durch den langen Fußmarsch durch Schlamm in Sandalen wund gelaufen waren.

Wir brachten ihn in unseren Behandlungsraum, zogen ihm die Sandalen aus und wuschen ihm die Füße. Zuerst schienen sie nur von den Strapazen der Reise gezeichnet, doch nach dem Waschen kamen seine Haut und damit auch ein Teil seiner Biografie zum Vorschein. Muhanads Füße hatten Brandnarben und seine Unterschenkel zeugten von einer Hauttransplantation.

Er erzählte uns von einem Luftangriff, der ihn an einem Nachmittag vor etwa sieben Monaten traf, als er mit seiner Familie und Freunden in seiner syrischen Heimat in Deir ez-Zor auf dem Dach saß. Um dieser ständigen Gefahr zu entkommen, ist er zusammen mit seiner Frau und seinen zwei und fünf Jahre alten Kindern seit 15 Tagen ohne Pause unterwegs. Unsere Krankenschwester Astrid verbindet seine Füße vorsichtig und auch feste Schuhe können wir für ihn auftreiben.

Schließlich hieß es für Muhanad, in die Warteschlange zu seiner Frau und seinen beiden Kindern zurückzukehren. Wo er jetzt ist wissen wir nicht, vielleicht ist er gut durchgekommen und bereits jenseits der ungarisch-österreichischen Grenze, vielleicht steht er aber auch wie tausende andere mit seiner Familie an der Grenze zwischen Serbien und Slowenien. Wo immer er auch sein mag, wir wünschen ihm alles Gute.

Unser Team bildet hier so etwas wie einen Hafen der Menschlichkeit, doch unser Beitrag kann, verglichen mit den tausenden Menschen die täglich durch „unsere“ Straße kommen, nur verschwindend gering wirken. Allerdings sind es genau diese Momente in denen wir einem Menschen in Würde begegnen und Hoffnung säen können, Wir wissen, dass unser Einsatz es wert ist!“

Kenneth Dakat: Die Nacht in der ich um Menschlichkeit flehte

(21. Oktober 2015)

"Die Wolken versammeln sich bereits am Morgen über uns und entladen sich dann den ganzen Tag über in Form von heftigen Schauern. Nach wie vor laden Züge Flüchtlinge in einem kleinen mazedonischen Dorf ab. Im strömenden Regen laufen sie die matschige Straße bis nach Miratovic, dem ersten serbischen Dorf über der Grenze. In Scharen kommen die Flüchtlinge dann bei uns in Presevo an, wo sie registriert werden, um kurz darauf nach Sid an der kroatischen Grenze weiterzuziehen.

Als wir zu unserer Nachtschicht antreten ist es kalt. Der Anblick der Wartenden versetzt uns einen Stich ins Herz: vom andauernden Regen durchnässt und vom langen Fußmarsch erschöpft, stehen kranke Kinder und erkältete Eltern in schlammigen Klamotten in der endlosen Registrierungsschlange. Nichts schützt sie vor der Kälte und dem nassen Wetter.

Wie und vor allem wo sollen wir beginnen diesen Menschen zu helfen? Ist es denn ein Verbrechen in einem Krisengebeutelten Land geboren zu sein? Gebührt Frieden nur einigen Menschen auf dieser Welt? Tausende Fragen schwirren mir durch den Kopf, als wir hin und her hetzen und versuchen möglichst vielen Flüchtlingen gleichzeitig zu helfen.

Unsere Ärzte arbeiten die ganze Nacht am Limit. Unaufhörlich bringen ihnen die freiwilligen Helfer Menschen mit Panikattacken oder Schwächeanfällen. Erneut wird Presevo zum Katastrophenschauplatz. Die lokalen Behörden sind mit den Massen überfordert. Mir kommen die Tränen, als ich einen ohnmächtigen Mann im Rollstuhl zum nächsten Doktor schiebe. Er ist einer von unzähligen Notfällen in dieser Nacht. Womit haben diese Menschen solch ein Leben verdient? Warum müssen sie so schlimm leiden, nur um in Frieden und Sicherheit leben zu können? In dieser Nacht flehte ich um mehr Menschlichkeit."

Kenneth Dakat: Die Hilfe reicht nicht aus

(20. Oktober 2015)

"Gerade eben wurde unser Team darüber informiert, dass Slowenien, das jeder Flüchtling auf dem Weg nach West- und Nordeuropa durchqueren muss, nur noch 2.000 Menschen am Tag einlässt. Ein Dilemma, denn der Flüchtlingsstrom von Mazedonien nach Serbien reißt nicht ab, weshalb immer mehr Menschen hier in Serbien festsitzen.

Das Chaos, das wir in unserer vergangenen Nachtschicht erlebt haben, übertraf meine schlimmsten Befürchtungen. Über 150 Patienten wurden in unsere provisorischen Klinikräume gebracht und schnell gingen uns die wärmenden Decken aus. „Decken sind nur für Mütter und Kinder.“, erklärten uns die Zuständigen.

Insgesamt ist die Versorgungslage fatal. Es fehlt an Essen, Schuhen, Kleidung, Decken und Toiletten. Einzig Tränen sehen wir im Überfluss über die Gesichter unserer Patienten laufen. Die meisten von ihnen warten schon die ganze Nacht, um endlich registriert zu werden.

Wo soll diese Krise hinführen soll? Wo sind all die internationalen Organisationen, die sonst in Notlagen wie dieser zur Stelle sind? Wo ist die internationale Presse mit ihrer Aufgabe einer transparenten und informierenden Berichterstattung? Umso weiter die Temperaturen in dieser Nacht fallen, umso mehr Fragen schwirren mir durch den Kopf.

Was passiert in den kommenden Tagen mit all diesen Menschen? Stehen wir kurz davor, die nächste Tragödie zu erleben? Unser Team gibt weiterhin alles, um die Flüchtlingen so gut wie möglich zu versorgen, doch unsere Hilfe reicht nicht aus."

Kenneth Dakat: Mohameds Weg

(16. Oktober 2015)

„Es ist Mitternacht als wir unsere Schicht am Registrierungslager in Presevo antreten. Wir arbeiten im Wechsel mit unseren Kollegen von Ärzte ohne Grenzen und versuchen dadurch eine rund um die Uhr Versorgung für die Flüchtlinge zu realisieren. Nun warten wir auf den nächsten Zug aus Mazedonien, der voller geschwächter Menschen sein wird, die bereits Tage unterwegs sind.

Um zum Eingang des Registrierungslagers zu kommen, müssen sie jedoch zuerst einige Kilometer zu Fuß zurücklegen. Diejenigen von ihnen, die noch etwas Geld haben, könnten sich theoretisch ein Taxi nehmen, doch die Preise dafür sind inzwischen so hoch, dass beinahe alle den Weg hierher laufen. Für Familien mit Kindern, Menschen mit Behinderung oder Ältere bedeutet das einen Fußmarsch von rund einer Stunde.

Uns erreichen die ersten Neuankömmlinge, eine Gruppe junger Männer, die wir mit warmen Tee versorgen, bevor sie sich in die lange Warteschlange stellen. Unter ihnen ist auch der zwölfjährige Mohamed aus dem syrischen Rakka. Er erzählt uns, dass sein Vater bei den russischen Bombenangriffen ums Leben gekommen ist und sich seine Mutter mit seinen beiden älteren Geschwistern noch immer in der Stadt befindet. „Ich habe es geschafft mit meinen Freunden zu fliehen, sonst ist es schwierig zu überleben.“, erklärt Mohamed.

Dann berichtet er von den schrecklichen Gräueltaten, die der Islamische Staat in seiner Heimat Tag für Tag verübt. Von den zahlreichen Morden, die er gesehen hat. „Ich möchte Dir nur zeigen, vor welchem Alltag ich fliehe.“, sagt er und uns kommen beinahe die Tränen. Was für eine schwere Last bereits auf diesem jungen Leben liegt.

Wir fragen Mohamed was er einmal werden will: „Irgendwann möchte ich einmal Arzt in Deutschland werden, doch zuerst möchte ich in die Schule gehen und lernen. Ich würde auch jede andere Arbeit machen, Hauptsache ich darf davor zur Schule gehen.“ Es sind vorsichtige, bescheidene Wünsche, die die Flüchtlinge für ihr neues Leben haben.

Wir geben Mohamed noch eine Tasse heißen Tee und umarmen ihn. Dann hastet er weiter und stellt sich in die lange Schlange zu den anderen Wartenden."

Victoria Wenz-Tappe: „Crying while working“

(10. Oktober 2015)

„Es ist 5:30 Uhr morgens und wir sitzen im humedica-Truck auf dem Weg zu unserer Unterkunft. Alle schweigen, bis Astrid, unsere niederländische Krankenschwester mit der Stille bricht: „Das ist der erste Einsatz, bei dem ich während meiner Arbeit weinen muss. Von allen humedica-Einsätzen in denen ich bis jetzt war, ist das bei weitem der traurigste.“ Uns laufen die Tränen übers Gesicht und wir fahren schweigend weiter nach Hause.

In den letzten beiden Tagen sind circa 15.000 Menschen auf ihrer Flucht nach Europa durch das serbische Registrierungscamp Presevo gekommen. Die lokalen Behörden sind mit dieser Masse an Menschen völlig überfordert, genauso wie wir. Unaufhörlich kommen Menschen an. Das schlimmste ist dabei der Regen. Es schüttet wie aus Eimern. Es gibt keine Unterkünfte für die Menschen. Sie müssen sich direkt in die lange Schlange vor dem Registrierungscamp stellen. Mitten in der Stadt, auf der Hauptstraße, stehen sie dicht gedrängt hinter den Absperrungen. Viele sind zu erschöpft um sich direkt anzustellen, sie liegen und sitzen an den Straßenseiten. Es sind so viele Familien mit Kindern. Wie hilft man tausenden Menschen, die ohne jeglichen Schutz im Regen stehen? Und dort auch noch zahlreiche Stunden, manchmal sogar Tage ausharren müssen?

Ich habe keine Ahnung wie viele unterkühlte Babys ich in den letzten Tagen aus klatschnasser Kleidung geschält habe, um sie dann behelfsmäßig in eine Decke und anschließend in eine wasserdichte Plane gewickelt habe. Ich habe so viele Socken auf kleine kalte Füße gezogen und versucht, irgendwo Schuhe für Kinder in Flipflops aufzutreiben. Wir arbeiten alle im Akkord: Behandeln Patienten, schenken heißen Tee aus, verteilen Bananen und mehr, ziehen Kinder um, verteilen Plastiktüten als behelfsmäßige Regenponchos. Die Kleidung geht uns meist schon nach zwei Stunden aus, dann wickeln wir wenigstens noch Plastiktüten um die Kinder. Sie weinen, wimmern oder geben gar keinen Laut mehr von sich.

Immer wieder laufe ich an den Anfang der Warteschlange und versuche die Kinder zu entdecken, die am unterkühltesten aussehen. Die Polizei ist sehr kooperativ und lässt sie mich oft aus der Schlange ziehen, um sie dann mit ihren Familien schneller nach vorne zu bringen. Doch von überall kommen Hände und das Leid der Menschen ist unübersehbar: „Madam! I have a baby, please help me! The baby is freezing!“ Aber wie hilft man so vielen Menschen?

Wieder kann ich eine Gruppe mit Babys und Kleinkindern von hinten nach vorne bringen. Doch das Camp ist zu voll, die Registrierung stockt, wir müssen im strömenden Regen warten. Der Vater eines circa acht Monate alten Kindes fängt vor Verzweiflung an zu weinen. Das Baby ist nass, eiskalt und weint bitterlich. Mit seiner Erlaubnis nehme ich es an mich, stecke es unter meine Jacke und drücke es an mich. Die Wärme hilft, nach einigen Minuten wird es ruhig und schaut mich interessiert aus der Jacke heraus an. Dann dürfen sie weitergehen und ich muss es dem Vater zurückgeben. Er bedankt sich unglaublich herzlich und sie gehen durch die Absperrung. Das Weinen des Kindes begleitet mich als ich wieder zurück zum Ende der Schlange gehe.

Ein junges Mädchen von vielleicht 13 Jahren steht schluchzend am Zaun und greift nach meinem Ärmel: „My family is in the front, please help me!“ Ihre Familie steht auf der anderen Seite, schon im nächsten abgesperrten Bereich. Das Mädchen hat es nicht geschafft mitzuhalten. Ich spreche mit dem Polizisten. Er schüttelt nur traurig den Kopf. Es ist 5:00 Uhr morgens und die Masse drückt von hinten. Wir bekommen sie einfach nicht heraus, ohne dass die vielen hundert Menschen hinter ihr die Absperrung niederdrücken würden. Ich kann ihr nicht helfen. Der Polizist versichert mir, dass die Familie drinnen wartet.

Mein Kollege Martin und ich verteilen noch einmal große Planen an die Wartenden, die sie über circa 40 Menschen spannen können. Sie werden dankbar angenommen, wie alles was wir verteilen. Es ist 5:20 und wir müssen los. Am liebsten wären wir weiter geblieben, doch wir wissen, dass wir unsere Kraft am nächsten Tag wieder brauchen.“

Victoria Wenz-Tappe: Schichtwechsel - Ankunft des medizinischen Teams in Presevo

(08. Oktober 2015)

„Als zweites humedica-Einsatzteam kommen wir in Presevo, einem kleinen Ort im Süden Serbiens an. Hier findet die Registrierung aller Flüchtlinge statt, die von Griechenland, über Mazedonien, durch Serbien nach Kroatien und dann Österreich weiterreisen. Täglich kommen hier tausende Flüchtlinge an, die stunden-, manchmal auch tagelang warten müssen, bis sie endlich die Schlange zur Registrierung passiert haben. Dann steigen sie in Busse, die sie nach Sid, in das nächste der vielen Übergangslager entlang der Balkanroute bringen.

Es ist acht Uhr abends, dunkel und kalt. Unser Team ist noch nicht ganz aus dem Auto gestiegen, als auch schon die ersten Patienten auf uns zu kommen. Astrid, unsere Krankenschwester, beruhigt eine Frau, die weinend in ihren Armen liegt. Sie ist seit Tagen unterwegs und völlig erschöpft. Wir bauen unser Zelt auf, ordnen uns etwas und beginnen mit der Behandlung von Patienten. Am Nachmittag hatte es heftig geregnet und viele Menschen sind durchnässt und unterkühlt. Vor allem die Kinder leiden unter den Wetterbedingungen, denn sie sind oft nur sommerlich gekleidet.

Die Menschen tragen nur wenig bei sich, manchmal eine kleine Plastiktüte oder eine Rucksack, Decken gibt es kaum. Neben der medizinischen Hilfe kochen wir Tee, teilen Wasser, Müsliriegel und Schokomilch für die Kinder aus. Immer wieder haben wir Patienten, die das lange, dicht gedrängte Anstehen in der Schlange nicht schaffen würden. Immer wieder kommt es zu kleineren Tumulten, die von der Polizei sofort unterbunden werden. Die Enge und der Druck der nachrückenden Menge sind besonders für Kinder, Schwangere und alte Menschen enorm belastend.

Kurz vor Mitternacht entdecken unsere Ärzte Barbara und Nikola einen völlig unterkühlten Zweijährigen. Sein Vater erklärt uns, dass er seit seiner Geburt behindert ist und unter Epilepsie leidet. Er hat ihn von Syrien bis hierher getragen, mit nichts als einer Decke, die nun nach dem Regen ganz nass ist. Die Hände und Füße des Jungen sind eiskalt und er wimmert leise vor sich hin. Der Vater erklärt uns, dass seine Medikamente fast leer sind.

Unser Team beschließt, dass er sofort an der Schlange vorbei, in den inneren Ring der Registrierung muss. Dort gibt es eine kleine Akutklinik, die ihm vielleicht mit Medikamenten helfen kann. Zwei von uns machen sich mit Vater und Sohn auf und kontaktieren die Polizei am Eingang des abgesperrten Bereichs. Die Polizei lässt uns durch und wir gehen an der langen Schlange wartender Menschen vorbei zur zweiten Absperrung. Hier steht das Militär. Auch hier lässt man uns nach kurzer Besprechung vorbei. Zuletzt dürfen wir auch durch die letzte Absperrung, die wieder von der Polizei gesichert wird.

In der Klinik angekommen, müssen wir leider feststellen, dass man auch hier die nötigen Medikamente nicht vorrätig hat. Aber wir bekommen ein Rezept vom zuständigen Arzt für Kleidung und eine warme Decke vom Serbischen Roten Kreuz. Nachdem wir den Jungen gewickelt, umgezogen und in eine große Decke gewickelt haben, beruhigt er sich langsam und fängt an zu lächeln. Wir begleiten Vater und Sohn noch zur Registrierung und können die zuständigen Helfer von der Dringlichkeit einer schnellen Bearbeitung überzeugen. Nach nur fünf Minuten dürfen wir die beiden zum Bus bringen. Der Vater des Jungen bedankt sich überschwänglich, unser kleiner Patient ist mittlerweile eingeschlafen. Heute sind sie vielleicht schon in Österreich.

Solche Beschleunigungen des Registrierungsprozesses, können wir dank unseres medizinischen Einsatzes in einigen Fällen ermöglichen. Für alle anderen ankommenden Menschen, steht unser Team am Ende der Schlange und spendet durch medizinische Hilfe, heißen Tee und Snacks etwas Mut und Kraft.“

Sebastian Alles: Und dann kommt der Regen

(03. Oktober 2015)

„Die Ziele der Busse ändern sich jeden Tag. Durch unsere Kontakte konnten wir den serbisch-kroatischen Grenzübergang Richtung Tuvornik als nächsten Ankunftsort ausfindig machen. Unser humedica-Team ist heute als erstes vor Ort. Zunächst fahren wir über eine Schotterpiste parallel zur Grenzstraße. Der Sprinter bahnt sich den Weg durch die Flüchtlingsströme. Pappschilder, auf denen groß „Welcome to Croatia“ geschrieben ist, säumen unseren Weg.

Am Ende der Piste bildet sich eine Schlange. Wir sprechen mit Polizisten, die uns erklären, dass die Flüchtlinge heute die serbische Seite der Grenze auf diesem Weg überqueren werden. Wir entscheiden uns dazu, die Grenze auf offiziellem Weg zu passieren, um direkt an den zentralen Sammelpunkt zu gelangen. Die Grenzbeamten begegnen uns freundlich. Sie scheinen sich mit dem regen Aufkommen von Hilfskräften an diesem Knotenpunkt arrangiert zu haben.

Die Flüchtlinge sammeln sich auf einem Friedhof im Niemandsland. Das Bild ist grotesk. In Absprache mit kroatischen Polizeikräften dürfen wir in der Nähe unsere Arbeit aufnehmen. Heute sind weniger Helfer vor Ort und die Menschen freuen sich, dass wir hier sind. Viele benötigen einen Arzt, um die Wunden der strapaziösen Reise versorgen zu lassen. Die Stunden vergehen. Es sammeln sich immer mehr Menschen auf den umliegenden Felder und Äckern. Aus wenigen Hundert sind gegen Abend mehrere Tausend geworden. Das Wetter wird schleichend schlechter.

Es wird unruhiger als das Gerücht die Runde macht, dass am heutigen Tag keine Busse mehr fahren werden. Männer kommen und fragen nach Informationen. Viele haben kleine Kinder und fürchten, mit ihren Familien bei Unwetter draußen nächtigen zu müssen. Mittlerweile ist es dunkel. Grenzbeamte werden ängstlich bedrängt. Angst und Frustration mischen sich zu einer aggressiven Traube junger Männer. Die ersten Pfeffersprayopfer erreichen uns. Mit brennenden Augen, zerfressen von Schmerz, werden sie von anderen Männern zu unserem Zelt geschleppt.

Es donnert. Man kann das Gewitter riechen. Wir öffnen unseren Sprinter und beginnen Planen zu verteilen. An diesem Grenzübergang gibt es heute bislang niemand anderen, der Hilfsgüter verteilt. Die Hoffnung auf warme Decken und die Furcht vor Regen treiben die Menschen in Richtung unseres Planwagens. Arme strecken sich, lautes Flehen macht sich breit. Die Situation beginnt uns zu entgleiten. Unsere Vorräte an Hilfsgütern einschließlich unserer eigenen Verpflegung sind schnell erschöpft.

Ein Teil des Teams steht mit ausgebreiteten Armen vor der Ladefläche, bemüht, Ruhe zu bewahren. Beeindruckend ist dabei die Unterstützung durch einige Flüchtlinge, die erkannt haben, dass wir bereits alles außer unserer Medikamente verteilt haben. Sie fassen sich an den Armen und bilden eine Mauer vor der verzweifelten Menge. Nur mit ihrer Hilfe gelingt es uns, den Wagen zu schließen und auf der serbischen Seite in Sicherheit zu bringen. Anschließend packen wir unser Zelt zusammen. Dann kommt der Regen. Wir verlassen die Grenze an diesem Tage mit nur einem Bild: Ein dunkles Meer aus durchnässten Planen unter denen Menschen liegen. Frierend, hoffend.“

Sebastian Alles: Alle fünf Minuten ein Reisebus

(30. September 2015)

„Jedes Fahrzeug transportiert sechzig Menschen. Viele Familien. Junge gebildete Leute. Hier am Grenzübergang nahe der kroatischen Stadt Bapska, kommen die großen Reisebusse etwa alle fünf Minuten an. Eine hohe Frequenz. Es herrscht eine Gluthitze. Die Menschen stürmen aus den Bussen. Sie tragen Plastiktüten und Rucksäcke.

Seit dem frühen Morgen haben wir unsere mobile Behandlungseinheit auf einem Feld nahe der Straße aufgebaut. Unsere Ärzte behandeln die neuen Patienten. Durch die lange Reise und das Schlafen unter freiem Himmel leiden viele Menschen an Infekten der oberen Atemwege. Einige sind dehydriert, haben Durchfallerkrankungen oder Hautausschläge. Mütter mit Kleinkindern werden von uns mit Windeln, Essen und Wasserflaschen versorgt.

Ein kleiner schwarzhaariger Junge mit schüchternem Blick kommt auf mich zu und deutet auf die Tüte Bonbons, die auf einer der Wasserkisten liegt. Sein Blick hellt sich auf, als ich ihm eine Hand voll reiche. Er bedankt sich. Dann macht er sich schnell auf den Weg zu seiner Mutter, die ihn schon eilig ruft. Die Menschen haben keine Zeit zu verlieren. Sie drängen über einen Feldweg in Richtung Grenzübergang.

Über einen kleinen Hügel kann man die Situation dort gut beobachten. In vorderster Front formen kroatische Polizisten eine Reihe. Sie markieren die Grenze zu Europa. Vor ihnen bilden tausende Menschen eine breite Schlange. Manche spannen gegen die Hitze Regenschirme auf, schützen besonders die Kleinkinder.

Vor mir trägt eine Frau ein Neugeborenes. Es ist vielleicht drei Wochen alt. Auf Nachfrage erzählt sie mir in perfektem Englisch, dass sie mit ihrer Familie seit etwa zehn Tagen von Damaskus aus unterwegs sei. Gerne wäre sie in ihrer Heimat geblieben. Noch vor wenigen Jahren sei die Stadt eine blühende Oase gewesen. Mit belebten Märkten, auf denen es nach orientalischen Köstlichkeiten duftete. Eine moderne Stadt mit Universitäten und altertümlichen Bauten.

Nun atme man nur noch Asche, erkenne die bekannten Straßen nicht wieder. Wo sie hin wolle, frage ich. Nach Norwegen oder Deutschland. Wenn der Krieg aber eines Tages zu Ende sei, werde sie wieder zurückgehen. Als ich mich verabschiede dankt sie mir für das, was wir für die Menschen hier tun.“

Sebastian Alles: Das Lager auf der Straße

(28. September 2015)

„Seit nunmehr einer Woche ist unser medizinisches Einsatzteam im Rahmen der Flüchtlingskrise in Serbien unterwegs. Immer wieder müssen wir unseren Standort den aktuellen Flüchtlingsbewegungen anpassen. Viele Telefonate werden geführt, denn die Orte an denen die Not am größten ist, ändern sich ständig.

Am Abend erreicht uns ein Notruf aus der Grenzregion zu Kroatien durch einen unserer Kontakte vor Ort. Das Gebiet liegt etwa 160 Kilometer von unserem jetzigen Aufenthaltsort entfernt. Es liegen nur wenige Informationen vor, doch unser Team macht sich sofort auf den Weg. Zwei rot-weiße Sprinterbusse, beladen mit wichtigen Hilfsgütern und einer mobilen medizinischen Klinik, fahren über schlecht beleuchtete Straßen in Richtung kroatische Grenze.

Nach zwei Stunden erreichen wir unser Ziel. Es ist kalt. Vor uns tut sich ein unwirkliches Szenario auf. Hunderte Menschen campieren auf der vermüllten Straße. Der Boden ist gepflastert von Müttern und Kindern in Schlafsäcken, viele von ihnen teilen sich einen. Einige Männer schlafen ohne Decke, liegen auf kaltem Stein. Wenige Feuer sind zu erkennen, die Luft riecht nach verbranntem Plastik, freiwillige Helfer verteilen Decken. Es werden verschiedene Sprachen gesprochen und oft hört man Kinder weinen.

Wir laufen über die unwirkliche anmutende Fläche. Viele der Menschen mit denen wir sprechen, haben eine tagelange Reise hinter sich. Die meisten sind vor Krieg und Armut geflüchtet, in der Sorge um ihre Zukunft und die Zukunft ihrer Kinder. Sie erzählen von der strapaziösen Reise, vom Gefühl Flüchtling zu sein. Es sind höfliche Menschen. Viele waren in ihren Ländern Lehrer, Ärzte, Studenten. Sie sind erschöpft. Die Blasen an den Füßen hindern manche von ihnen Schuhe zu tragen. Sie fragen nach Hilfe.

Unsere Ärzte werden immer wieder von anderen freiwilligen Helfern gerufen, die Menschen mit fiebrigen Infekten entdeckt haben. Im Getümmel treffe ich den Sohn einer schwangeren Frau wieder, die wir zwei Tage zuvor in Belgrad behandelt haben. Ich frage, wie es seiner Mutter geht. Er lächelt. Erzählt mir, dass er solch eine Situation auf seiner langen Reise über die Türkei bis Serbien nicht erlebt hat.

Er bedankt sich, dass wir vor Ort sind. Das Team leistet Hilfe, wo es kann. Verteilt Wasser und Medikamente. Es ist bereits vier Uhr als wir in unseren Sprintern schlafen gehen. Einige von uns schlafen im Zelt auf der Straße. In wenigen Stunden geht es für das Team mit der medizinischen Versorgung der Bedürftigen weiter.“