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"Seit sieben Wochen bin ich nun hier in Port-au-Prince. Meine Verantwortung ist die physiotherapeutische Nachbehandlung der Erdbebenopfer. Ich hätte nie gedacht, wie wichtig meine Arbeit hier sein würde.

Ich denke zum Beispiel an Marie-Julie, eine Patientin, die am linken Bein einen komplizierten Bruch hat und deren linker Arm amputiert wurde. Sie war Studentin für Laborarbeiten und lag eine Nacht unter den Trümmern der Universität.

In der ersten Märzwoche bin ich mit ihr das erste Mal an einer Stütze gelaufen. Nach zwei Schritten musste sie sich bereits völlig erschöpft wieder hinsetzen. Zwei Wochen später erreichte sie ohne fremde Hilfe eine Strecke von rund 50 Metern am Stück.

Nach sechs Wochen fing sie an, ohne Stützen zu laufen. Das Strahlen in ihren Augen verriet den Stolz über diese Leistung.

Ich denke an Stephen, der zu Beginn wegen großer Schmerzen und Angst sein Knie nicht bewegen wollte. Nach sanfter Behandlung und gutem Zureden beugt er sein Knie mittlerweile zum rechten Winkel.

Mit großem Eifer übt Stephen nun selbst, weil er sieht, welche Fortschritte in kurzer Zeit möglich sind. Er hat das Ziel, alleine für seine zweijährige Tochter sorgen zu können; die Mutter ist eines der rund 222.000 Opfer des Bebens.

Da ist der sechsjährige Rudolph, der wegen einer Wunde vom Oberarm bis zum Handgelenk bereits einen Narbenstrang entwickelt hat, sodass der Ellbogen kaum noch Bewegungsspiel hat. Dazu kommt eine Nervenlähmung an Hand und Fuß, weder Handgelenk noch Finger sind aktiv beweglich.

Nach einigen Tagen intensiver Behandlung und einer selbst gebastelten Schiene ist die Hand zunehmend passiv beweglich. Auch am Fuß entwickelt sich die Funktionalität langsam wieder.

Es ist wie ein Wunder, wie lebensfroh der Kleine ist, obwohl er lange zwei Tage durstig unter den Trümmern seines Hauses lag; neben seiner toten Großmutter. Kontakt zu ihm hatte die Mutter nur über Zurufe.

In vielerlei Hinsicht hat sich in den vergangenen sieben Wochen viel getan. Alle Patienten sind mittlerweile aus dem Bett mobilisiert worden, nachdem sie zum Teil wochenlang kontinuierlich nur gelegen hatten. Die meisten sind selbst mobil, viele achten mehr auf sich und machen ihre Übungen eigenständig.

Obwohl die Therapie oft mit Schmerzen verbunden ist und für Patient sowie Therapeutin eine schweißtreibende Arbeit bedeutet, sind die Menschen sehr dankbar. Sie mögen mich und sind sehr offen für meine Ratschläge.

Ich komme hier regelmäßig an meine körperlichen Grenzen. Die Hitze ist in den Zelten besonders schlimm. Viele Behandlungen laufen kniend auf dem Boden, daher kämpfe ich regelmäßig mit meinem Kreislauf.

Wenn dann noch Mobilisationen aus Bodenhöhe durchgeführt werden mit Patienten, die ein steifes Knie und Schmerzen und dazu noch wochenlang gelegen haben, entsprechenden Muskelabbau inklusive, stehe ich immer wieder vor besonderen Herausforderungen: Improvisation und Kreativität sind gefragt.

Einen besonderen Moment durfte ich in der vergangenen Woche erleben, als die ersten drei Amputationspatienten ihre Prothese bekamen. Sogar der depressive Mackenson lächelte. Melicienne schöpfte sichtbar Hoffnung, eines Tages ihr Studium doch wieder aufnehmen zu können. Binnen weniger Tage können wir viele Fortschritte sehen, was uns als Team große Freude bereitet.

Meine Zeit geht hier sehr bald zuende. Mein Herz ist voller schöner und trauriger Geschichten. Ich habe viele lachende und weinende Gesichter gesehen und wenn ich mich in drei Tagen von meinen Patienten verabschieden muss, werde ich mit einem dankbaren Herzen zurückkehren.

Diese Menschen hier in Haiti haben mir gezeigt, wie man nach dem größten Schicksalsschlag trotzdem an Gottes Allmacht und Liebe glauben kann und wie man wieder aufsteht, um dann im Vertrauen auf Gott weiter zu gehen.

Mit herzlichen Grüßen aus Haiti
Damaris Schubert"