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Es ist ca. 9 Uhr Ortszeit in Togo.

Uns rinnt der Schweiß herunter. Alles klebt am Körper und dabei haben wir noch nicht mal angefangen zu arbeiten. Vorgestern sind wir gelandet. Fünf Krankenschwestern, drei Ärzte und eine Zahnärztin. Nun stehen wir vor dem Gefängnis in Lomé. Über 2000 Insassen und alle möglichen Leute, deren Namen und Funktion ich bereits wieder vergessen habe, stehen mit uns vor Ort in der prallen Sonne und beten für uns und die nächsten 12 Tage. Wir sind gut aufgestellt und relativ gut vorbereitet, dachte ich mir. Nach gefühlt langen, mehr oder weniger für uns nicht nachvollziehbaren organisatorischen Schritten öffneten sich dann endlich für uns die Tore. Dies war der Beginn unserer Arbeit.

Zehn Gefängnisse und insgesamt 2400 Patienten durften wir in dieser Zeit betreuen. Wenn man sich diese Zahl vor Augen hält, haben wir fast Unmögliches geschafft. Fast jeder Einsatztag begann mit einem Gebet und einem kleinen Lied inklusive mehr oder weniger ausgefeilter Choreografie, was die erste Brücke zu den Insassen schlug. Denn während wir Europäer zu Beginn so unsere Mühe mit den richtigen Enthusiasmus hatten, stieß dies bei den Insassen nach anfänglicher Zurückhaltung auf sehr rege Begeisterung im tristen Gefängnisalltag und sorgte für die ersten Lacher und Jubel, was uns dann immer ansteckte doch noch richtig Gas zu geben. „J'ai une melodie dans mon cœur…“ - „Ich trage eine Melodie in meinem Herzen…“ war eins der Lieder, welches sich auch noch lange danach als Ohrwurm in mir festsetzen sollte.

Nach der Hitze kam dann auch der Regen. Und somit sah ich zum ersten Mal in meinem Leben sog. „Schützengrabenfüße“. Füße, die durch langes Stehen im Wasser nicht nur anschwellen, sondern sich als blaue bzw. weiße und leblose Füße mit schlimmen Entzündungen präsentieren. Die Insassen müssen so ausharren in der Nacht – stehend, denn es gibt keinen Platz für alle zum Hinlegen. Schon gar nicht für Neuankömmlinge. Wir waren geschockt. Es waren ja teilweise noch halbe Kinder.

Wir waren betroffen und sprachlos und das Erlebte nagte noch einige Zeit an uns. Aber es ging bereits weiter – in den Norden des Landes. Und damit wurden die Bedingungen nicht unbedingt besser. Wir haben viel Schlimmes, ja Unmenschliches gesehen, aber durften auch erleben, dass sich Zustände ändern können. Dass die Arbeit von humedica und die von Prison Fellowship Nachhaltigkeit und Frucht tragen kann, auch wenn die Mühlen langsam mahlen.

Und so kam es, dass der eine oder andere aus unserem Team von den Insassen wiedererkannt wurde. Vor zwei Jahren schon sei man dagewesen und damalige Beschwerden konnten gut behandelt werden. Die Tage vergingen wie im Flug. Nicht nur, dass uns rasend schnell wichtige Medikamente ausgingen und wir improvisieren mussten, auch durften wir erleben, wie unsere Gebete erhört wurden.

Denn plötzlich standen wir ohne verfügbares Anti-Krätzemittel da. Das Alternativpräparat war bis zum letzten Tropfen aufgebraucht, und es lagen noch einige Tage Arbeit vor uns. Also half nur noch beten. Zuvor hatte beinah wirklich jeder Gefangene schlimmste Hautveränderungen gehabt, die selbst die Lehrbuchbilder aus dem Studium bei weitem übertrafen. Zu unserem Erstaunen gab es ab dato kaum noch Insassen, die unter Krätze litten. Praise god!

Wir behandelten Malaria, Infektions- und parasitäre Krankheiten allen voran Krätze, behandelten Wunden, chronische Erkrankungen, Stoffwechselentgleisungen so gut es eben ging, spalteten Abszesse, zogen um die 200 Zähne und gaben tausende von Tabletten aus. Wir regten an, berieten uns mit den togolesischen Kollegen und schrieben ärztliche Atteste in der Hoffnung, dass dem einen oder anderen eine Behandlung in einem Krankenhaus zukommen würde. Und in all dem erlebten wir wahnsinnig viel Dankbarkeit.

Zwei Wochen Gefängniseinsatz in Togo liegen hinter uns. Und es hat Spuren hinterlassen, bei uns allen. Aber gute Spuren. Unser Team bestand aus „alten Hasen“ und mir – dem „Frischling“. Es war mein erster Einsatz als „medical doctor“. Und noch heute glaube ich daran, dass es Fügung war, dass genau dieses Team sich für den Togo Einsatz zusammen gefunden hat.

Die Arbeitsbereitschaft war von Tag eins bis zum Schluss ungebrochen, der Teamgeist und auch die Verbundenheit untereinander unschlagbar. Die Zusammenarbeit mit den lokalen Ärzten und Krankenschwestern und all den vielen Leuten von Prison Fellowship, die daran interessiert waren für hiesige Verhältnisse, diese Reise so einfach wie möglich zu machen, war wirklich stark. Nicht zu vergessen Eric. Unser leicht durchgeknallter, niemals müde scheinender, togolesischer Projektleiter vor Ort – er gab gefühlt 200%, damit wir diese Mission in seinem Land zu unserer eigenen machten.

Wir sind am Flughafen Brüssel, unsere gemeinsame Reise startete und endete nun hier. Und ich? „J'ai une melodie dans mon cœur…“ - „Ich trage eine Melodie in meinem Herzen…“ – für Togo, für Prison Fellow Ship und für all die Menschen, denen wir begegnet sind. Und der Rest meines Teams tut dies auch.

P.s.: ich könnte noch so viel mehr schreiben, aber dies würde den Rahmen einfach sprengen. Da wir als Team unfassbar viel Spaß zusammen hatten, möchte ich eine kleine Anekdote mit dem Einverständnis der genannten Person zum Besten geben:
„Wo ist Silke?!“

Wir hatten gerade unsere heutige Arbeit beendet und packten zusammen. Ich musste dringend meine Blase erleichtern, so dass ich schon einmal die Mauern des Gefängnisses verließ. Draußen angekommen sehe ich eine aufgeregte Horde Soldaten – vor dem Klo. Mein fragender Blick trifft unsere Zahnärztin welche ein breites Grinsen im Gesicht trägt und mir ging die Frage durch den Kopf: „Wo ist eigentlich Silke?“ Alle schrien in mir unverständlichen Französisch, dass Silke sich im Klo eingesperrt hatte, die Türklinke abgebrochen und ein Entkommen durch das Fenster aufgrund des Eisenbehanges nicht möglich war. Unsere Zahnärztin bestätigt im prustenden Gelächter die togolesischen Kollegen. Silke war da drin.

Zur gleichen Zeit wurde eine unserer Krankenschwestern von einem fürchterlichen Durchfall heimgesucht. Anflutende Panik und eine herannahende Ahnung, dass, bis die Tür geöffnet und die Toilette wieder benutzbar sein würde, es für sie zu spät sein könnte, ließen ihr nur die Flucht in der Busch. Während die Soldaten versuchten mit aller Macht und Gewalt die Tür zu öffnen und ich jeden Moment damit rechnete, dass diese ihre Kalaschnikow zückten um die Tür zu zerschießen, gab die Tür bei drohender Komplettzerstörung ihren Widerstand auf und ließ eine mit Schweißperlen im Gesicht sprachlose Silke frei. Inzwischen war das Team komplett und jeder, wirklich jeder wurde über die gerade abgelaufene Szene lachend informiert. Wir lachten uns kugelig und die Soldaten wussten nicht, in Anbetracht der kaputten Tür, ob sie lachen oder weinen sollten. Silkes kurzzeitige Gefangenschaft auf dem Klo wurde somit zum „running gag“ der gesamten Reise und jedes Mal wenn Silke fehlte oder zu spät dran war, fragten wir uns: „Wo ist eigentlich Silke?“.