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Nachdem humedica-Ärztin Sabine Kirchner in der Vergangenheit umfassende Katastrophenhilfe auf den Philippinen und in Liberia leisten konnte, stand nun erstmals ein langfristig geplanter Hilfseinsatz auf ihrer Agenda. Gemeinsam mit vier weiteren Medizinern, machte sich die Allgemeinärztin Anfang Juni auf den Weg in den Westen der Ukraine, um das Behindertenheim „Romaniv Boys Orphanage“ medizinisch zu unterstützen. Warum ihre Hilfe dort genau am richtigen Ort war, hat sie für uns festgehalten:

Die Zustände sind erschreckend

„Das „Romaniv Boys Orphanage“ entstand unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg als staatliches Heim für behinderte Jungen und noch immer leben 80 Buben und junge Männer in der Anstalt, von denen kein einziger Unterstützung oder Besuch von zuhause bekommt. Weil Behinderte zu Sowjetzeiten weit weg von der restlichen Gesellschaft untergebracht werden sollten, befindet sich das Heim 60 Kilometer außerhalb der nächstgrößeren Stadt Zhytomyr.

Die Zustände im Heim selbst sind erschreckend. Keine der Pflegerinnen hat eine Ausbildung. Viele der Kinder sind wegen einer mangelhaften Flüssigkeitszufuhr vollkommen dehydriert. In einem einzigen Schlafsaal stehen bis zu zwölf Betten. Zum Glück haben sich Kim und Jed von unserer Partnerorganisation Wide Awake International dieser Probleme angenommen und arbeiten hart daran, die Lebensbedingungen der Jungen zu verbessern und die Pflegerinnen umfassend zu schulen.

Als wir an unserem ersten Tag im Heim ankommen, werden wir freundlich von Teamleiter Victor begrüßt. Wir besichtigen das sogenannte Isolationshaus, in dem die schwerstbehinderten Jungen wohnen. Vier von ihnen sind bettlägerig und müssen rund um die Uhr gepflegt werden. Unter ihnen ist der sechsjährige Wanja. Mit seinen sechs Kilo Körpergewicht hat er vielleicht die Größe eines Zweijährigen, sein Zustand ist besorgniserregend.

Über mehrere Stunden versuchen wir den Jungen mit unserer mitgebrachten Spezialnahrung zu füttern, irgendwann kann er sie bei sich behalten und schenkt uns ein Lächeln, was uns und seine Pflegerin Luda zutiefst berührt. Trotzdem gibt es Heim noch so viel zu tun. Wo sollen wir nur anfangen?

Am nächsten Morgen werden wir überschwänglich von dem Bewohner Ilja begrüßt. Er fällt uns um den Hals und freut sich riesig, wenn ihn jemand auf die Arme nimmt. Seine Geschichte ist besonders traurig. Bis zum Kriegsbeginn in der Ostukraine wohnte er in der Stadt Mariupol, doch dann musste seine Familie flüchten. Weil seine Mutter arbeiten muss, gab sie den Jungen im „Romaniv Boys Orphanage“ ab und war seitdem nicht mehr gesehen. Nun hat er neben seiner Heimat auch noch seine einzige Bezugsperson verloren, doch verstehen kann er das aufgrund seiner Behinderung nicht.

Natürlich sehen wir auch heute gleich nach Wanja. Stolz berichtet uns seine Pflegerin, dass sie ihn am Morgen schon gefüttert und er seitdem nicht mehr erbrochen hat. Sie sagt, sie wünsche sich nichts mehr, als dass Wanja lebt. Im Anschluss sprechen wir noch mit dem Direktor des Waisenhauses.

Man merkt deutlich, dass es ihm nicht leicht fällt, uns um Unterstützung zu bitten, doch er nimmt sich ein Herz und berichtet uns von den geringen staatlichen Zuschüssen, die den behinderten Jungen die so wichtige Spezialnahrung verwehrt. Wir versprechen unser bestmögliches zu geben, um zu helfen.

In den kommenden Tagen machen wir uns ein genaues Bild von den verschiedenen Krankheitsbildern im Heim und überlegen gemeinsam, wo der größte Handlungsbedarf besteht und in welchen Themen wir die Mitarbeiter am besten schulen könnten. Eine tolle Nachricht erreicht uns noch am Ende unserer ersten Woche im „Romaniv Boys Orphanage“: Mit Tränen in den Augen berichtet uns eine Pflegerin, dass unser kleines Wunderkind Wanja etwas zugenommen hat. Immerhin, ein kleiner Lichtblick!

Viele kleine Schritte in die richtige Richtung

Unsere zweite Woche im „Romaniv Boys Orphanage“ beginnt mit einem Krankenhausbesuch mit den beiden Jungen Irakly und Sascha. Beide müssen dringend geröntgt werden, doch sie schlagen sich tapfer und freuen sich über die besondere Zuwendung und nicht zuletzt über ein paar mitgebrachte Süßigkeiten.

Dann können wir die Pflegerin und Krankenschwester der beiden beruhigen. Alles ist den Umständen entsprechend normal. Gemeinsam machen wir uns anschließend auf den Weg in einen Supermarkt, wo wir Kartoffel- und Maisstärke zum andicken der Spezialnahrung der Jungen kaufen. Mal sehen, welche ihnen besser schmeckt.

Am nächsten Morgen hat endlich die für das Behindertenheim zuständige Ärztin Leysa Zeit für uns und wir bekommen die Möglichkeit, uns auszutauschen. Das Gespräch trägt Früchte: Weil wir die Kosten übernehmen, erhält der schwer kranke Irakly einen MRT-Termin in der nächsten Stadt Zhytomyr. Man sieht Leysa ihre Erleichterung an.

Danach setzte ich mich mit einer der Pflegerinnen zusammen. Sie erzählt mir von dem unterernährten Kolja, der hauptsächlich Fisch essen möchte. Weil es diesen hier nicht allzu oft gibt, greift er zu Gras und Bananenschalen. Das sei immerhin gesünder als Erde, meint die Pflegerin.

In den nächsten Tagen gilt unsere Aufmerksamkeit den Mitarbeitern des Behindertenheims, indem wir ihnen am Nachmittag die Möglichkeit zu Beratungen anbieten. Am Anfang trauen sich nur Wenige, doch gegen Ende müssen sie sogar vor unserer Tür Schlange stehen. Die Chefköchin erzählt mir, dass sie nun bereits 40 Jahre für die Jungen kocht und eigentlich schon lange in Rente sein sollte. Doch diese reiche nicht einmal für die Miete ihrer Wohnung.

Alle sind traurig, als unser letzter Tag im „Romaniv Boys Orphanage“ anbricht. Was sollen wir nur den Jungen sagen, wenn sie uns fragen, ob wir morgen wieder kommen? Um die Schwestern bei der Pflege der Jungen langfristig unterstützen zu können, haben wir genaue Anleitungen erstellt und hängen diese nun über die einzelnen Betten. Am Nachmittag haben wir noch einmal sehr viele Patienten und die Jungen freuen sich über unsere mitgebrachten Süßigkeiten.

Ein letztes Mal füttere ich den kleinen Kolja. Mit Kartoffeln und Blumenkohl aus dem Gläschen haben wir zwar nicht seinen Geschmack getroffen, doch zumindest isst er etwas. Es sind viele kleine Schritte in die richtige Richtung, die wir in den vergangenen Tagen im Behindertenheim erleben durften, doch noch bleibt viel zu tun.“

Bitte werden Sie Teil unserer Hilfe in der Ukraine und unterstützen Sie die Jungen im „Romaniv Boys Orphanage“ durch eine wertvolle Spende. Vielen Dank!