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"Als die Wände des Hauses schwankten, warf ich meine beiden drei und fünf Jahre alten Kinder aus dem Fenster. Meine Mutter und mein Vater wurden im zusammenstürzenden Haus mit mir zusammen verschüttet". Mit dieser Beschreibung versucht eine Peruanerin das Unfassbare in Worte zu fassen. Als in Peru am 15. August gegen 18.40 Uhr abends die Erde begann zu beben, stand den Menschen das schwerste Erdbeben seit 30 Jahren bevor. Viele Menschen wurden verschüttet, zahlreiche Häuser vollständig zerstört. humedica war nach nur wenigen Stunden im Einsatz. Im Team mit dabei: Prof. Dr. Dr. Bernd Domres, der seine persönlichen Erlebnisse dieses Ersteinsatzes für uns in einem mehrteiligen Tagebuch zusammengefasst hat.

"Das Epizentrum des Erdbebens befand sich nahe der Stadt Pisco, die etwa 280 km südlich von Lima liegt. Rund 260.000 Menschen leben dort. Nach unserer Ankunft in Lima macht sich das humedica-Team zusammen mit dem Personal der lokalen Organisation "Associacion Cristiana De Jovenes Del Peru (CVJM) sofort auf den Weg dorthin. Für die Strecke zwischen Lima und Pisco, die normalerweise in etwa drei Stunden zurückgelegt werden kann, brauchen wir heute fast neun. Das Beben hat diese wichtige und berühmte Verbindungsstraße "Panamericana" in den Süden teilweise in tiefe Spalten aufgerissen. Rund 50 km vor Pisco ist die zweispurige Straße sogar halb weggebrochen, so dass jeweils nur eine Spur befahrbar ist. Krankenwagen mit Verletzten in Richtung Lima haben Vorfahrt. Als wir ankommen, werden wir Zeugen unvorstellbarer Verwüstung.

Das Beben hat fast alles zerstört. Rund 530 Tote, 1300 Verletzte und fast 70 Prozent zerstörte Häuser, das ist die schreckliche Bilanz dieses Bebens. In Pisco treffen wir auf den leitenden Chirurgen des Städtischen Krankenhauses: ‚Ich operierte gerade, als das schreckliche Beben losging. Der OP wurde total zerstört, meinen Patienten habe ich nicht mehr lebend gesehen. Er starb wie viele Patienten im völlig zerstörten Krankenhaus von Pisco. Nur die noch nicht in Betrieb genommenen neu erbauten Gebäude hielten stand. Dort fangen wir an, zu arbeiten. Strom, Wasser und Personal fehlen. Sie sind mit Ihrem Team herzlich willkommen. Bitte fangen Sie sofort mit Ihrer Arbeit an. Es gibt viele Verletzte, die behandelt werden müssen.’

Zu Beginn unserer Arbeit wird neben der Rettung von Verletzten und der lebensrettenden medizinischen Erstversorgung vor allem Trinkwasser benötigt. Die ganze Stadt ist zerstört und in Staub eingehüllt. Durch diesen Staub müssen wir viele Atemwegserkrankungen und Lungenentzündungen behandeln. Ansonsten leiden die Menschen vor allem an mechanisch verursachten Brüchen, Prellungen und dem für eine Verschüttung typischen Quetschsyndrom. Die meisten Verletzten werden nach Lima ins Hospital Nacional Rebagliatti gebracht, das das größte und beste Krankenhaus von Peru ist. Um es vor einer möglichen Stürmung durch die Hilfesuchenden zu schützen, ist es ringsum durch einen unüberwindbaren Zaun und ein großes Eisentor abgeschottet und wird von mehreren Wachmännern bewacht.

Das Personal in den Krankenhäusern leistet Übermenschliches und bleibt dabei freundlich und ruhig. Die Ärzte und Pfleger lassen sich den enormen Stress und die extreme psychische Belastung nicht anmerken. Sie behandeln ihre Patienten immer mit Ruhe und freundlicher Zuwendung. Für die Peruaner ist die persönliche Beziehung zum Anderen besonders wichtig. Um den Betroffenen gerade in dieser schweren Zeit ein wenig Geborgenheit zu schenken, wurden an vielen Stellen Schilder mit der Aufschrift "Abrazos gratis" aufgestellt, die sich mit "Kostenlose Umarmung" übersetzen lassen: Vor und nach jeder Behandlung umarmt man sich - das tut vor allem in einer solchen Extremsituation gut." [Fortsetzung folgt]