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Überall in Barguna treffen die humedica-Ärzteteams auf dankbare Menschen, die dringend eine Behandlung benötigen. Im dritten und letzten Teil seiner persönlichen Reportage berichtet Koordinator Dieter Schmidt von den vielen Eindrücken während des Einsatzes der Teams.

Früh am nächsten Morgen machen wir uns auf in das erste Dorf, nach Tatulbaria. Da hier - wie auch in den anderen elf Dörfern in unserem Zielgebiet - der Landweg praktisch unpassierbar ist, legen wir einen Teil des Weges auf einem wackeligen Holzboot zurück. Wir bauen unsere mobile Klinik in einem noch immer mit Schlamm überzogenen Schulgebäude auf, die wichtigsten Medikamente werden auf einem Tisch zur "klinikeigenen Apotheke" angerichtet und ein Vorhang trennt einen Behandlungsraum, um insbesondere die Privatsphäre weiblicher Patienten zu schützen. Noch eine Teambesprechung, schnell noch Schulbänke als Sitzgelegenheit für Alte und Schwache aufgestellt und die ersten Patienten können kommen. Längst drängen sich dutzende Menschen vor der Klinik, die auf Hilfe hoffen. Patienten mit Brüchen kommen nur noch vereinzelt, dafür treffen unsere behandelnden Ärzte immer wieder Patienten mit eitrigen Wunden, Abszessen, Haut- und Atemwegserkrankungen, Fieber, Magen- und Darmkrankheiten oder auch Durchfall.

Am nächsten Tag wird unser Ärzteteam nochmals in Tatulbaria arbeiten, und ich kümmere mich um die Vorbereitungen in den Dörfern, wo unsere Ärzte in den Folgetagen arbeiten werden. Verteilt auf die Subdistrikte Barguna, Amtali, Pathorgatha und Bamna sind dies:

Parirkhalbazar
Hazarbigha
Chalitatali
Babu-Gonc
Goyal-Bhanga
Kabirajpara
Kakchira
Gintala
Charduani
Chalabhanga
Dawa Tala

Die Anreise zu diesen Dörfern gestaltet sich oft sehr schwierig: per Minibus, Rikscha, zu Fuß, zu Dritt auf einem Moped, und immer wieder in alten Holzbooten, aus denen immer wieder das eindringende Wasser geschöpft wird, machen wir uns dorthin auf den Weg. Die nächstgelegenen Dörfer liegen etwa eine dreiviertel Stunde von unserer Unterkunft entfernt, die am weitesten entfernten etwa dreieinhalb Stunden - verteilt auf ein Gebiet von fast 1200 Quadratkilometern.

Doch die mühsame Anreise lohnt sich: Überall werden wir mit offenen Armen empfangen; die Not ist groß, der Bedarf an Hilfe ist riesig. Oft blieb den Überlebenden wirklich nur das, was sie auf dem Leib trugen. Kein Wunder, dass überall die gleichen Dinge unter flehenden Bitten nachgefragt werden: Wasser, Lebensmittel und medizinische Versorgung, darüber hinaus Kleidung, Kochtöpfe, Decken und erst dann Hilfe beim Wiederaufbau, sowie Arbeit, um die Familien wieder selbst versorgen zu können (vielen Fischern hat "Sidr" die Boote genommen und die Ernte der Bauern vernichtet).

Und gerade bei diesen Gesprächen mit den Verantwortlichen der Dörfer wird das ganze Ausmaß dieser Katastrophe erlebbar: Manche wurden bereits einen Tag vor dem Sturm gewarnt, andere eine halbe Stunde davor, wieder andere wurden überrascht. Die sich in die "Cyclon Center" flüchten konnten (das sind meist auf Betonstelzen gebaute und mit Fensterläden aus Blech versehene Schutzgebäude) berichten, wie sie mit bis zu 2500 Menschen dicht gedrängt in diesen Gebäuden standen, wie Eltern nach ihren Kindern riefen, Kinder nach ihren Eltern, wie sich nackte Überlebensangst breit machte. Sie erzählen, wie es viele nicht mehr in die schützenden Gebäude geschafft haben oder dort einfach kein Platz mehr war. Ein Fischer berichtet, dass er gerade auf dem Wasser war, als "Sidr" kam. Er wurde ans Ufer gespült und überlebte mit Glück.

Ich lerne einen Jungen kennen, dessen Vater vom einstürzenden Haus begraben wurde, einen Mann dem die fünf Meter hohe Sturmflut das Kind aus den Armen riss. Er konnte es nicht mehr halten. Männer zeigen, wie sie auf Bäume geklettert sind und sich an Ästen festgeklammert haben. Einem anderen steigen die Tränen der Ohnmacht in die Augen ob der kilometerlangen Verwüstungen, wo an Stelle der Hütten und Häuser nun nur noch notdürftige Unterkünfte stehen, zusammen gebaut aus Ästen, Matten, Planen und Zweigen, etwa brusthoch und gerade so groß wie ein Dreimannzelt. Mehr haben diese Menschen nicht mehr. Sie zeigen mir Bilder von Toten, aufgenommen mit einem Mobiltelefon. Männer und Frauen jeden Alters. Am schlimmsten sind die Fotos toter Kinder. Und am Straßenrand dann die Gräber: Aufgeschüttete Erdhaufen, die Leichen sind nur dürftig bedeckt, oft zwei oder drei Tote in einem Grab. So wird mir in den elf Dörfern von insgesamt 1091 Toten berichtet. Sterbliche Überreste der Menschen, die in diesem Gebiet tatsächlich gefunden worden. Auf die Frage, ob sie glauben, dass die noch immer vermissten 974 Menschen dieser Dörfer vielleicht doch wieder zurückkommen, möglicherweise nur in anderen Dörfern Zuflucht gefunden haben, ernte ich nur trauriges Kopfschütteln: Nein, sie hat das Wasser mitgenommen. Sie kommen nicht mehr wieder.

Kurz vor meiner Rückreise nach Deutschland sieht man dann weitere Hilfsorganisationen ankommen, erste Hilfslieferungen im Gepäck. Die wichtigsten Straßen sind geräumt, provisorisch ausgebessert und wieder nutzbar. Die Regierung unterstützt nach Kräften, setzt Militär und Boote ein. Große Transporthubschrauber der US-Army fliegen abgelegene Gebiete an. Die internationale Hilfe läuft an und ist doch noch immer ein Tropfen auf dem heißen Stein. Auch unser Team bekommt weitere Unterstützung: Gerhard, der zusammen mit Sandra die Koordination des humedica-Einsatzes vor Ort weiterführen wird, kommt zusammen mit Gertrud, einer Krankenschwester und Christl, einer Apothekerin, an.

Tags darauf kommt auch noch eine weitere Ärztin: Selma, die von einem PRO7-Fernsehteam begleitet wird, die wiederum eine Dokumentation über Ihren Einsatz produzieren. Und in wenigen Tagen wird ein weiteres Ärzteteam folgen. Neben der dringend benötigten medizinischen Hilfe wird bald auch das Projekt für die Beschaffung und Verteilung der täglichen Güter starten. In Kaufbeuren und direkt vor Ort läuft die humedica-Hilfe auf Hochtouren.

Und diese lässt sich durch (fast) nichts aufhalten: Nicht von fehlender Energieversorgung oder Kommunikationsproblemen (anfänglich konnten wir überhaupt keinen Kontakt nach Deutschland aufbauen) und auch nicht von Erkrankungen einiger Mitglieder im Team (Durchfall, Erbrechen, Kreislaufprobleme bis hin zur Bewusstlosigkeit - Gott sei Dank haben wir fähige Ärzte im Team). Klima und Umgebungsbedingungen fordern ihren Tribut. Aber davon lassen wir uns nicht aufhalten. Es gilt, jeweils kurzfristig auf die aktuelle Situation zu reagieren. Nach kurzer Zeit sind aber alle so weit wieder fit, dass wir mit dem gesamten Team weiter arbeiten können.

Es gäbe noch viel, viel mehr zu erzählen. Von wunderschönen Begegnungen mit Kindern und Erwachsenen, die wenigstens für kurze Zeit ein strahlendes Lächeln in ihr Gesicht zauberten. Von Reifenplatzern und Beinahe-Unfällen, von herzlichen zwischenmenschlichen Kontakten mit unseren lokalen Kollegen, die phantastische Unterstützung im Projekt leisten. Von der Medikamentenlieferung, die zeitlich perfekt passend ankam. Oder über Rich von Operation Blessing, einer amerikanischen Partnerorganisation von humedica, den ich vor zwei Jahren bei einem Einsatz im Niger kennengelernt habe und von dem ich seit dem nichts mehr gehört hatte. Er rief mich eines Abends überraschend aus den USA an und bot an, bei Bedarf ein Wasserflugzeug zu organisieren. Und natürlich von der tollen Zusammenarbeit im Team mit Menschen, die sich vorher noch gar nicht kannten, die unter schwierigen äußeren Bedingungen zusammengekommen sind, um zu geben, um anderen Menschen zu helfen - und die wie ich mit vielen unvergesslichen Eindrücken wieder nach Deutschland zurückkehren werden. Beschenkt durch eine Vielzahl kleiner und großer Wunder, die davon zeugen, dass auch dieser Einsatz wieder "von oben begleitet" und gesegnet wurde.