Direkt zum Inhalt

Statt sich in den Sommerferien von ihrem Beruf als Lehrerin zu erholen, hat sich die Hamburgerin Nora Parasie auf den Weg in eine vermeintlich andere Welt gemacht: Als ehrenamtliche humedica-Einsatzkraft ist sie in das rund 6.000 Kilometer entfernte Flüchtlingslager Melkadida an der äthiopisch-somalischen Grenze gereist und unterstützt dort das lokale Team bei der medizinischen Versorgung der Menschen. Mit welchen Abenteuern diese Reise aufwartet, schildert sie Ihnen in ihrem ersten Bericht aus Äthiopien.

„Samstagabend in London: „Die Maschine nach Addis Abeba ist nun zum Einsteigen bereit. Bitte bleiben Sie sitzen, bis diese Ansage beendet ist“. Mit diesen Worten wird mein Flug von Ethiopian Airlines aufgerufen. Beim Einsteigen werde ich gefragt, ob ich ein Rückflugticket habe, dann geht es los. The new spirit of Africa lautet der Untertitel der Fluggesellschaft.

Afrikanische Musik empfängt mich auf meinem grün-bunten Sitz und ich fühle mich sofort auf die Reise nach Afrika eingestimmt. Meine Sitznachbarin reist zu ihrer Familie nach Nigeria. Addis ist nur das Drehkreuz für sie, auch ich mache dort nur einen Tag Zwischenstopp. Die kühlen Temperaturen unter 20 Grad erinnern mich eher an Deutschland. Ich finde heraus, dass Addis mit einer Höhe von 2.300 Metern die dritthöchst gelegene Hauptstadt der Welt ist.

Passkontrolle auf dem Landeplatz

Montagmorgen in Addis Abeba, sechs Uhr. Ich stehe wieder am Flughafen und checke am Schalter des United Nations Humanitarian Air Service mein Gepäck ein, um nach Dollo Ado in Südäthiopien zu fliegen. Als eine von sieben Passagieren für diesen Flug, erhalte ich eine wiederbenutzbare Bordkarte. Der Flug verzögert sich um zwei Stunden und so habe ich Zeit, die anderen sechs Passagiere bei einem gemeinsamen Frühstück kennenzulernen. Sie sind Mitarbeiter unterschiedlicher Hilfsorganisationen in der Dollo Ado-Region – dem Gebiet, wo Kenia, Somalia und Äthiopien aufeinandertreffen.

Bevor wir in die winzige Maschine steigen, kontrolliert jeder noch einmal, ob sein Gepäck auch in dem Flugzeug verstaut ist, dann kann es losgehen. Die Piloten sitzen zwei Reihen vor mir. Etwas wackelig heben wir ab. Während des zweieinhalbstündigen Flugs wird die Landschaft immer karger, lange Zeit ist nur Wüste zu sehen. Schließlich erkenne ich Camp-Siedlungen und einen Fluss. Wir landen auf einer Sandpiste. Das muss Dollo Ado sein, die Stadt an der somalischen Grenze. Am Ende der Piste schaue ich aus dem Fenster und sehe fünf Geländewagen unterschiedlicher Organisationen, die bereits auf ihre Mitarbeiter warten. Ich freue mich, als ich auch einen Mitarbeiter in humedica-Weste erkenne.

Es ist heiß und staubig. Die Passkontrolle findet auf dem Landeplatz direkt vor dem Flugzeug statt. Ich bin angekommen in einer Gegend, in die über zweihunderttausend Menschen aus Somalia geflohen sind. Hier hoffen sie, sicher zu sein und ausreichend versorgt zu werden. Die nächsten drei Wochen werde ich die Arbeit von humedica in der Region kennenlernen und die deutsche Koordinatorin Sandra in ihren Aufgaben unterstützen.

Hunger und Terrormiliz

Zwei Stunden über Schotterstraßen bringen uns nach Melkadida, dem mit 45.000 Flüchtlingen größten Lager der Region. Wir fahren mit einem weiteren humedica-Auto im Konvoi. Das äthiopische Militär zeigt in der Region zu Somalia eine große Präsenz, denn auf der somalischen Seite sind weiterhin Terroristen der Al-Shabab-Miliz aktiv.

2011 litten die Menschen hier im Dreiländereck Äthiopien, Somalia und Kenia unter der schlimmsten Dürre seit 50 Jahren. Eine große Hungersnot und immense Flüchtlingsströme waren die Folge. Viele Menschen verließen Somalia zudem wegen des andauernden Bürgerkriegs und des Terrors. Seit dem Ausbruch dieser humanitären Katastrophe ist humedica, dank der Unterstützung des Auswärtigen Amts, hier vor Ort. Hebammen, Krankenpfleger, Ärzte, Zahnarzthelfer, Übersetzer und Fahrer arbeiten in der Gesundheitsstation in Melkadida. Sie liegt in der Mitte des Camps.

Im benachbarten Lager Kobe konnte letztes Jahr eine neue Gesundheitsstation für schwangere Frauen und Kinder unter fünf Jahren, einer besonders gefährdete Gruppe, eröffnet werden. Einige Flüchtlinge sind als sogenannte Community Health Workers für humedica tätig. Ihre Aufgabe ist es, die Menschen über Hygiene, Impfungen und Ernährung aufzuklären. Um das nötige Wissen dafür zu erlangen, organisiert humedica-Mitarbeiter Mohammed regelmäßige Schulungen.

„Als wir 2011 mit der Arbeit anfingen, kamen die Menschen extrem ausgehungert und geschwächt hier an“, berichtet Mitarbeiter Frelemo. Er ist verantwortlich für die Apotheke und gibt die Medikamente in der Gesundheitsstation aus. „In dieser Zeit sind viele Menschen aufgrund der Hungerkatastrophe gestorben. Für uns Helfer war es selbstverständlich, von früh bis spät zu arbeiten. Oft ging es um Leben und Tod. Inzwischen hat sich die Situation stabilisiert, aber die Menschen sind weiter auf Hilfe angewiesen. Wie ihre Zukunft aussieht, ist völlig unklar.“

Mit Eselskarren zur Gesundheitsstation

Dienstagmorgen 7:50 Uhr. Aufbruch zur Gesundheitsstation. Die 20 humedica-Mitarbeiter, die gemeinsam auf einem Gelände vor dem Camp leben, springen in drei Autos. Unterwegs steigen weitere Mitarbeiter ein. An der Gesundheitsstation warten bereits viele Patienten. Krankenpfleger Mohammad bespricht mit den Community Health Workers den Tag. Die anderen Mitarbeiter richten sich in Apotheke, Zahnbehandlungsraum, Labor, Beobachtungs- und Behandlungsräumen ein. Krankenpflegerin Zahara führt währenddessen die Triage unter den wartenden Patienten durch. Triage bedeutet die Einteilung von Patienten: Menschen, die besonders krank sind, die schwere chronische Erkrankungen haben oder von weit her kommen, sind als erstes dran.

Innerhalb der nächsten Stunde füllen sich die Räume. Die Mitarbeiter Freo und Teddy beginnen die ersten Zähne zu ziehen. Der deutsche Zahnarzt Gerhardt Petz, der das Lager neben anderen deutschen Ärzten in der Vergangenheit besuchte, hat ihnen das beigebracht. Mieraf nimmt einem Patienten Blut ab, Omar und Dr. Ahmed behandeln zunächst die Notfälle, Frelemo gibt Medikamente aus und erklärt deren Einnahme. Ein schwer kranker älterer Mann wird mit der „ambulance“ gebracht. Die „ambulance“ ist ein Eselskarren und ein in dieser Gegend unverzichtbares Transportmittel. Der Mann kommt in den Beobachtungsraum. Hier gibt es zehn Liegen, auf denen Patienten den Tag über beobachtet werden können.

Durchfall richtig behandeln

Der Alltag im Flüchtlingslager hat in den fünf Jahren seines Bestehens inzwischen Routine angenommen. Gesundheitliche Aufklärung ist jedoch weiter dringend erforderlich. Oft geht es ganz einfach darum, den Menschen klar zu machen, dass sie ihre Kinder zur Gesundheitsstation bringen sollen, anstatt schädigende traditionelle Heilmethoden anzuwenden, wie etwa Wunden einfach aufzuschneiden oder Durchfall auf das Wachsen von Zähnen zurückzuführen und diese deshalb zu ziehen. Außerdem muss die korrekte Einnahme von Medikamenten immer wieder erklärt werden. Oft nehmen Patienten eine zu hohe Dosis. Ein weiteres Ziel ist eine ausreichende Impfabdeckung für Polio, Meningitis und Masern.

Aktuell füllen sich die fünf Flüchtlingslager in der Dollo Ado-Region weiter: Somalische Flüchtlinge, die in Kenia und im Jemen Zuflucht gefunden hatten, werden hierher verlagert. Wenn ich bei unserer Patientenumfrage wissen will, was sich die Flüchtlinge von humedica wünschen, sagen viele: „Continue like this.“ Weitermachen, die Situation stabil halten, das ist das Bestreben für morgen. Weg von hier wollen sie nicht, erzählt mir ein UN-Mitarbeiter, der für die Umsiedlungen zuständig ist. Die Hoffnung bleibt, dass sie eines Tages zurück in ihre Heimat können.

Die kühlste Jahreszeit mit 33 Grad

Gegen 17 Uhr werden die letzten Patienten behandelt. Das Gelände auf der Gesundheitsstation leert sich. Erschöpft steigen alle wieder in die Autos. Zurück auf dem Gelände kochen Lemlem und Mita bereits das Abendessen. Es gibt Reis mit würziger Tomatensoße. Heute ist es windig, so dass die 33 Grad auszuhalten sind. Mir wird erklärt, dass es im August am kühlsten ist. Wir spielen noch eine Runde Volleyball. Ich habe Glück: Danach ist eine der drei Duschen frei.

Auf einmal höre ich, wie der Generator seinen Betrieb aufnimmt. Schnell stecke ich alle Ladekabel ein und nutze den Strom, um die Bögen der Patientenumfrage zu drucken, die ich morgen weiter durchführen möchte. Als ich gegen 19 Uhr zum Abendessen gehe, ist es stockdunkel. Im Fernsehen läuft Fußball: Japan gegen Nigeria. Lief das nicht bereits gestern? Es ist die Wiederholung, in der 10. Minute erfahre ich: Das Spiel endet 3:5. Nigeria hat gewonnen.