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Auch wenn aktuell kaum noch neue Flüchtlinge in Europa ankommen, bleibt die Situation für die Menschen, die den gefährlichen Weg über das Mittelmeer geschafft haben, angespannt und unsicher. Viele von ihnen haben zuvor mehrere Jahre in Nordafrika gelebt und gearbeitet. Erst mit den politischen Veränderungen dort mussten sie sich weiter auf den Weg nach Europa machen. humedica unterstützt seit mehreren Jahren zwei Projekte in Sizilien, die den Geflüchteten dort beim Start in ein neues Leben unter die Arme greifen und ihnen eine Perspektive geben wollen. humedica-Mitarbeiterin Lisa Wolff besuchte die Projektpartner und durfte sie vier Tage lang bei ihrer Arbeit begleiten. Ihre Erlebnisse und Erfahrungen teilt sie hier mit uns.

Tag 1: Ein neues Leben auf Sizilien

Es geht nach Caltanissetta, dem Bauchnabel Siziliens wie mir erzählt wird. Ein gutes Bauchgefühl habe ich tatsächlich sofort, als mich Enos und Margherita Nolli am Flughafen in Catania abholen. Sie organisieren für unsere Partnerorganisation GiM (Gioventú in Missione) Flüchtlingshilfe auf der Insel sowie an drei anderen Standorten in Italien. Die Leidenschaft für ihre Tätigkeit spürt man bei der ersten Begegnung.

In Caltanissetta besuchen wir eine Familie aus Pakistan, die GiM bereits seit vier Jahren begleitet. Jan kam zunächst alleine. Später konnten seine Frau und die Tochter nach Italien folgen, die beiden Söhne wurden hier geboren. In seiner Heimat war er als Software-Entwickler und IT-Manager tätig, hier betreibt Jan ein kleines Geschäft, in dem er Reparaturdienste für Computerzubehör und andere technische Dienstleistungen anbietet. Der Weg bis hierhin war schwierig. Enos und Margarita Nolli begleiteten Jan und später die gesamte Familie – emotional, seelsorgerisch, aber auch mit Unterstützung in Form von Lebensmitteln und Startkapital für die Unternehmensgründung. Sie werden von Jan und seiner Frau mit „Mamma“ und „Baba“ begrüßt. Die Kinder laufen ihnen aufgeregt entgegen. Die Hilfe hier kommt von Herzen.

„Angefangen hat unsere Unterstützung in Caltanissetta vor allem als mobile Hilfe. Viele Flüchtlinge lebten auf der Straße, unter Brücken. Auch im Winter. Wir verteilten Kleidung, Decken, Schuhe und Lebensmittel. Viel davon wurde uns von humedica zur Verfügung gestellt“, berichtet Enos Nolli. Auch bedürftige Italiener werden von GiM versorgt. „Auf Sizilien ist die Arbeitslosenzahl generell sehr hoch“, so Enos weiter. Die einheimische Bevölkerung und die Geflüchteten stehen hier vor denselben Herausforderungen.

Doch mittlerweile sieht die Situation nicht nur hier im Herzen Siziliens anders aus, für die Flüchtlinge in ganz Italien hat sich die Lage drastisch verändert. Und damit auch die Hilfe von GiM sowie die Unterstützung von humedica.

„Die meisten kleinen Flüchtlingszentren wurden aufgelöst und die Menschen in großen Camps untergebracht“, erzählt Enos. Etwa 600 Menschen zählt das Lager in Caltanissetta aktuell. Die mobile Hilfe wird von der italienischen Regierung unterbunden, um die illegale Immigration damit zu verhindern.

Gemeinsames Abendbrot in Piedimonte Etneo

Unweit des GiM-Zentrums in Piedimonte Etneo sitzen wir nur wenig später beim gemeinsamen Abendessen im Esszimmer von Mustafa und seiner Familie. Sie sind aus Marokko hierhergekommen. Mustafa ist bereits seit drei Jahren hier, seine Frau mit den beiden Kindern im Teenager-Alter kam vor einem Jahr schließlich hinterher. Enos und sein Team unterstützen auch hier bereits über einen längeren Zeitraum. Seinen Lebensunterhalt bestreitet Mustafa mit einem kleinen Verkaufsstand. „Wenn es morgen regnet, verkaufe ich Regenschirme“, scherzt Mustafa.

Sechs verschiedene Nationalitäten sitzen um den Esstisch und sind dankbar für die gemeinsame Zeit – und für die köstliche Couscous-Tajine, die Fatihah, Mustafas Frau, für uns zubereitet hat. „Wenn wir das im Kleinen können, weshalb funktioniert es nicht auch im Großen?“, fragt Mustafa in die Runde. Nachdenklich gehen wir zu Bett.

Tag 2: Im größten Flüchtlingslager Italiens

„Es kommen aktuell kaum noch Flüchtlinge hier auf Sizilien an. Die Boote dürfen ja nicht anlegen“, erklärt Margherita Nolli. Dennoch besuchen wir heute das größte Flüchtlingscamp Italiens: Mineo. Zu Höchstzeiten des Flüchtlingsstroms sollen hier etwa 5.000 Menschen untergebracht worden sein. Derzeit sind es etwa 3.000, ausgelegt ist die ehemalige Wohnanlage für amerikanische Militärs-Familien auf nicht ganz die Hälfte.

Wir treffen sechs junge Männer, vier von ihnen kommen aus Ghana, zwei von der Elfenbeinküste. Sechs Monate sind sie alle bereits mindestens hier, der längste von ihnen zwei Jahre. Sein erster Asylantrag wurde abgelehnt, nun wartet er auf das Ergebnis der Berufung. Alle warten hier auf die Ergebnisse der Kommission, ob sie bleiben und arbeiten dürfen. Und wenn ja, für wie lange.

Enos besucht sie regelmäßig im Camp. Wir tauschen uns aus, besprechen die aktuellen Veränderungen auf politischer Ebene, die sich auch spürbar im Alltag der Geflüchteten auswirken. Beispielsweise wurde das Personal im Lager um die Hälfte reduziert. Die bisher kostenfreien Busfahrten ins Zentrum oder nach Catania müssen nun bezahlt werden. Plätze im Bus gibt es nur knapp 60, bei etwa 3.000 Flüchtlingen heißt das eine lange Warteliste.

Dennoch sind alle dankbar, auf Sizilien sein zu dürfen. Dankbar dafür, die Flucht übers Mittelmeer überlebt zu haben. Fast alle von ihnen haben zuvor mehrere Jahre in Libyen gelebt und gearbeitet. Erst mit den politischen Veränderungen dort mussten sie sich weiter auf den Weg nach Europa machen. Nun heißt es Geduld haben und die Entscheidung über ihr Bleiberecht abzuwarten. Berufungsverfahren können seit Kurzem nicht mehr eingeleitet werden. Kommt nun ein negativer Bescheid, müssen sie Italien verlassen. Nur wohin sollen sie dann gehen?

Doch heute gibt es auch positive Nachrichten: Einer der jungen Männer hat nach eineinhalb Jahren im Camp nun das Bleiberecht für zwei Jahre erhalten. Er wird in den kommenden Tagen das Camp verlassen und versuchen, sich eine Lebensgrundlage aufzubauen. Wählerisch bei der Arbeitssuche ist er nicht, vielmehr dankbar dafür, die Möglichkeit bekommen zu haben, wieder einer Beschäftigung nachgehen zu können – egal welcher. Sich wieder ein Leben aufbauen zu können – zumindest für die zugestandene Zeit von zwei Jahren.

Der Winter steht bevor, das heißt auch hier auf Sizilien, dass die kalte Jahreszeit anbricht. Enos hat Jacken dabei, die ihm humedica über Sachspenden zur Verfügung stellen konnte. So stehen uns die sechs jungen Männer bald warm eingekleidet und dankbar gegenüber. Wir wünschen ihnen alles Gute und Gottes Segen bevor wir uns auf den Rückweg nach Catania machen.

Tag 3: Offene Türen und Herzen in Ragusa

Von Catania geht es für mich weiter nach Ragusa. Hier betreiben Francesco und Tina Iuzzolini mit ihrer Organisation Missione Tre V onlus bereits seit mehreren Jahren ein Open House, eine offene Anlaufstelle für Flüchtlinge. Auch hier ist es ehrliche Freude und ein herzliches Willkommen, die einen jeden in Begrüßung nehmen, der in der Corso Italia vorbeischaut. Die menschliche, wohlige Wärme, die hier herrscht, schließt mich sofort mit ein.

Das Team von Tre V onlus ist in den letzten Jahren entsprechend der Zunahme der Flüchtlinge mitgewachsen. Die Räumlichkeiten reichen teilweise nicht mehr für die enorme Nachfrage aus, das Open House ist eine wichtige Adresse in Ragusa geworden. Im wahrsten Sinne des Wortes eine Anlaufstelle. Eine internationale Gemeinschaft von Ehrenamtlichen bietet hier Italienisch- und Englischkurse, Näh- und Computer-Workshops, vor allem aber Wertschätzung, ein offenes Ohr und eine Umgebung, in der man sich wohlfühlen und in netter Gesellschaft eine Tasse Tee oder Kaffee genießen kann.

humedica kann dank der Unterstützung aus Deutschland bei der Finanzierung dieser Räumlichkeiten sowie der Beschäftigung von zwei Lehrkräften helfen. Ergänzt wird diese finanzielle Hilfe durch Sachspenden: Der bevorstehende Winter treibt auch hier die Menschen um, im Open House können Kleidung und Schuhe abgeholt werden.

Heute findet außerdem ein Italienischkurs statt – auch für mich „molto bene“ und lehrreich. Im Nebenzimmer treffen sich andere zum Kartenspielen, während dort auch die Kinderbetreuung stattfindet, damit die oft alleinerziehenden Mütter ebenfalls am Kurs teilnehmen können.

Die Geschichten und Schicksale der Menschen hier sind so vielfältig wie ihre Nationalitäten. Viele kommen schon länger hierher und genießen sichtbar das aufrichtige Interesse, das ihnen entgegengebracht wird. Andere sind zum ersten Mal da.

Und trotz aller Vertrautheit ist es auch hier die große Ungewissheit darüber, wie es weiter geht, die bei allen zu spüren ist – im Team und bei den Geflüchteten. Auch wenn jetzt nicht mehr so viele Flüchtlinge hier ankommen, gibt es noch immer so viele Menschen in den Camps, die auf die Entscheidung über ihre Zukunft warten. „Mit dem längeren Aufenthalt in den Camps ändern sich auch die Bedarfe und Anforderungen an unsere Hilfe“, sagt Tina Iuzzolini. Vor allem aber ändert sich die Situation für die Menschen, die hier in Europa nach Sicherheit und Stabilität gesucht haben. Diese Ungewissheit sowie das Gefühl, hier nicht gewollt zu sein, sind schwer zu ertragen. Aktuell gibt es hierfür noch keine gute Lösung. „Auch wenn wir diese Problematik für die Flüchtlinge nicht vollständig auflösen können, wollen wir ihnen durch unser Angebot zeigen ‚Ihr seid nicht allein. Ihr seid uns wichtig. Wir gehen diesen Weg soweit wie möglich und nötig mit Euch‘“, so Tina weiter.

Francesco ist neben dem Open House auch viel in den sich um Ragusa befindenden Flüchtlingscamps unterwegs und sieht, wie sich dort die Situation verändert. „Viele kleinere Camps werden geschlossen und die Menschen an andere Orte gebracht. Wir möchten ihnen eine konstante Adresse bleiben.“

Tag 4: Von und für das Open House

Das gelingt dem Team rund um Francesco und Tina nicht zuletzt durch das Angebot von verschiedenen Kursen. Zweimal die Woche gibt beispielsweise Ferial ihr Wissen als Schneiderin und Modedesignerin weiter. In ihrer Heimat, dem Libanon, betrieb sie ein erfolgreiches Atelier, hatte Angestellte und produzierte für zahlreiche namhafte Kunden in der arabischen Welt. Nach ihrer Flucht fand sie zunächst selbst Unterstützung im Open House. Heute ist sie Teil des Teams und gibt das, was sie selbst erfahren hat an die anderen Menschen, die auf der Suche nach Halt hierher kommen, weiter.

Auch im Englisch-Konversationskurs am Freitagnachmittag herrscht hervorragende Stimmung. Die Gruppe ist bunt gemischt, ein Baby schläft nebenbei friedlich im Kinderwagen, ein Kleinkind wird von den Team-Mitgliedern bei Laune gehalten, damit seine Mama sich besser auf die Inhalte konzentrieren kann. Thema heute: „Time“. Zeit.

Die Frage nach der Zeit

Die Zeit im Open House ist kostbar. Niemand weiß so genau, wie es weitergeht, wie lange man auf den Entscheid über das jeweilige Bleiberecht warten muss, wie sich die Situation für und die Stimmung gegenüber den Geflüchteten verändern wird. Auch aus diesem Grund ist die Zeit im Open House so wichtig. Es ist eine Zeit, in der jeder willkommen und wertvoll ist. Zeit, die mit Herzenswärme gefüllt wird. Zeit, die ich für einen Moment teilen durfte. Zeit, die wir von humedica gerne weiter unterstützen möchten.

Bitte helfen Sie uns dabei, den Menschen in Sizilien weiterhin eine bessere Perspektive zu bieten. Herzlichen Dank.