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Einsatzkräfte mit humedica Weste bei einer Team Besprechung.

Viele Menschen spendeten zugunsten der Menschen in der Ukraine – und das in einer kaum geahnten Dimension. Mehrere Wochen, ja Monate gab es sowohl für Spender als auch für Medien fast kein anderes Thema.

Christoph Jorda

humedica: Wie war das für humedica, als am 24. Februar 2022 der Ukraine- Krieg begann?

Sebastian Zausch: Etwas anderes fand erstmal gar nicht statt. Wir waren alle von den Vorgängen in der Ukraine geschockt und mussten darauf reagieren. Wir sind eine Organisation, die in Katastrophenfällen schnell aktiv wird. Das heißt all diese Mechanismen rund um eine Katastrophe laufen an. Gleichzeitig ist es natürlich ein Kriegsgebiet: Man hat das Thema Sicherheit der eigenen Leute immer mit im Blick. Genauso muss man sich mit der etwas unklaren Faktenlage auseinandersetzen: Was findet wo statt? Wie lange dauert das? Wo kann ich hin und wo nicht? All solche Fragen muss man sich stellen. Aber auch, welche Bedarfe bestehen. Es gibt relativ wenig Informationen aus dem Land in solch einer Situation. Wir waren dort schon vor Ort mit Hilfsgütern aktiv und haben ein Partnernetz. Die hatten natürlich einen Blick auf die Situation, aber auch sie mussten erst einmal sehen, wie sie mit der Situation umgehen

humedica: Hat sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf den Krieg auch auf euch als Organisation ausgewirkt?

Sebastian Zausch: Wir haben eine unglaubliche Welle der Hilfsbereitschaft erfahren. Das heißt, Medien und Spender haben gefragt: Was macht ihr in der Ukraine? Gleichzeitig waren wir dabei, all diese Strukturen zu schaffen und zu prüfen, ob wir ins Land können oder ob es für unsere Helfer zu gefährlich ist. Da waren wir immer ein bisschen zwischen den Erwartungen und den Möglichkeiten, die man faktisch in solch einer Situation hat. So ein Kriegsgebiet ist z.B. auch entsprechend abgeschottet und LKWs fahren plötzlich nicht mehr dorthin.

Einen Weg zu finden, wie wir damit umgehen, war eine große Herausforderung. Wir mussten sehr schnell in der Spenderbetreuung und in der Projektabwicklung auf die geänderten Anforderungen reagieren.

humedica: Hat sich eure Hilfe in der Ukraine im Laufe der Zeit verändert?

Sebastian Zausch: Ja, denn wir überlegen immer mit: Wie kriegen wir die auch über eine lange Zeit hin? Denn wir stehen eben nicht nur für die akute, schnelle Hilfe. Wir wollen auch den Wiederaufbau immer schon mitdenken. Oder z.B. im Winter: Da gab es viele Stromausfälle und gleichzeitig nicht die Energieressourcen, um die Wohnung warm zu halten. Auch der Energiepreis ist enorm gestiegen. Kohle, Holz und ähnliche Brennmaterialien waren für die meisten Menschen nicht mehr bezahlbar und zum Teil auch auf dem Markt nicht verfügbar. Deswegen haben wir dann kurzfristig zusätzlich zu den Hilfsgütern, die wir sowieso ins Land bringen, nochmal gezielt Brennholz in die Ukraine gefahren, um es dort an die Menschen, die es sich nicht leisten können, zu verteilen.

humedica

humedica: Wie begegnet man solchen Herausforderungen?

Sebastian Zausch: Mit dem, wofür humedica bekannt ist: Viel Engagement, viel Enthusiasmus und viel Liebe zu den Menschen und zu unserer Arbeit. Das ist das, was einem dann einfach bleibt. Man weiß immer: Warum machen wir das?

humedica: Hat so eine große Krise auch Einfluss auf andere Projekte?

Sebastian Zausch: Auf jeden Fall hat das einen Einfluss, denn plötzlich hat sich jeder nur noch für die Ukraine interessiert. Andere Projekte, die wir gemacht haben, sind komplett vom Radar verschwunden. Die gesamte Berichterstattung der Medien richtete sich nur noch auf den Krieg in der Ukraine. Niemand konnte fassen, was da passiert. Und alles, was es außerdem noch gab, war nicht mehr im Fokus: Hunger in der Welt, die Corona-Krise und die vielen Toten, die es aufgrund dieser Corona-Pandemie gab und die vielen Menschen, die deshalb keine Perspektive haben. Sie alle waren plötzlich medial und auch in der Wahrnehmung der Menschen nicht mehr existent.

Wir merken das auch bei Katastrophen. Wenn irgendwo ein Vulkan ausbricht oder es ein Erdbeben gibt, wie im Februar in der Türkei mit vielen Toten und vielen Verletzten, berichten die Medien darüber. Das geht dann so ein paar Tage, vielleicht auch eine oder zwei Wochen, oder im Fall der Ukraine eben ein paar Monate, je nachdem. Und nach einer gewissen Zeit ist das mediale Interesse deutlich geringer. Die Not der Menschen ist aber durchaus noch da. Das merken wir dann auch tatsächlich im Spendenvolumen für die jeweilige Katastrophe.

Das ist natürlich schwierig, wenn man als Hilfsorganisation nicht nur dort helfen möchte, wo die Kameras sind, sondern allen anderen auch. Auch wenn alle Wahrnehmung auf die Ukraine gerichtet ist, gibt es in Sri Lanka und in Indien und auf dem afrikanischen Kontinent viele Menschen, die dennoch unsere Hilfe brauchen und denen wir trotzdem helfen wollen und müssen. Wir sind dankbar und glücklich darüber, dass wir keine Hilfsangebote einstellen mussten, sondern alle weiterführen konnten.

humedica: Wie habt ihr es geschafft, die anderen Projekte trotzdem so fortzuführen wie geplant?

Sebastian Zausch: Dass wir auch in den anderen Projekten weiterhelfen können, ist dem großen Rückhalt unserer Spender zu verdanken. Menschen, die jeden Monat 20 Euro, 30 Euro oder einfach das, war sie erübrigen können, regelmäßig an humedica spenden: Das sind diejenigen, die auch die Projekte, die nicht im Mittelpunkt stehen, möglich machen. Diese Menschen befähigen uns, die Arbeit in den Projekten, die von der Öffentlichkeit vergessen sind umzusetzen. Dieser Grundstock an Spendengeldern im Bereich “Da, wo am nötigsten”, macht unsere Hilfe planbar.

Das sind die Gelder, die uns auch ermöglichen, kurzfristig auf Bedarfe zu reagieren. Also auch schnell zu reagieren, wenn eine Katastrophe passiert, wie es bei der Ukraine oder bei den schweren Erdbeben in der Türkei und in Syrien im Februar nötig war. Auch da brauchen wir eine gewisse Anschubfinanzierung: Spendengelder kommen in den meisten Katastrophen nicht gleich am ersten Tag, aber wir müssen ab dem ersten Tag helfen.

humedica: Gibt es auch Katastrophen, für die wenig gespendet wird?

Sebastian Zausch: Es ist grundsätzlich so, dass es über das gesamte Jahr hinweg Katastrophen gibt, die einfach wenig beachtet werden. Wir haben sehr viel mediale Berichterstattung über Themen wie Afghanistan, viele Menschen haben persönliche Beziehungen zu Ländern wie Sri Lanka oder Nepal oder auch Äthiopien. Gleichzeitig sind Länder wie Pakistan oder auch der Niger in der Berichterstattung nicht ganz so präsent und auch wir haben als deutsche oder als westlich orientierte Menschen nicht so eine enge Beziehung dazu. Vielleicht haben wir auch keine genaue Vorstellung davon, wie es in diesen Ländern aussieht und wie die Menschen dort leben. Und je ferner die Lebenswirklichkeit der Menschen ist und je weniger man mit damit zu tun hat, desto geringer ist auch das Bewusstsein für ihre Nöte, ihre Bedürfnisse und für die Katastrophe, in der sie leben.

Unser Ziel ist es, die Menschen trotzdem darauf zu stoßen und darauf aufmerksam zu machen, dass es auch im Niger Menschen gibt, die hungern und die unsere Hilfe brauchen. Dass es auch in vielen an- deren Ländern dieser Welt, auch wenn die Medien nicht darüber berichten. Not gibt, der man unbedingt entgegentreten muss.

humedica: Droht die Ukraine-Krise im Bewusstsein der Spender ebenfalls vergessen zu werden?

Sebastian Zausch: Der Krieg in der Ukraine findet direkt vor unserer Haustür statt. Deswegen hat er eine ganz andere Wahrnehmung als eine Katastrophe, die weiter weg stattfindet. Nichtsdestotrotz ist es so, dass man als Mensch irgendwann die schlechten Nachrichten vielleicht nicht mehr hören mag, sich selber Gedanken macht und Ängste hat, was da noch kommen kann und das Thema dann auch verdrängt wird. Das wiederum ist beim Ukraine-Krieg nicht anders. So ticken wir Menschen im Grunde und verdrängen dieses Thema dadurch dann auch für uns selber so ein bisschen und nehmen es aus dem Fokus. Dann sagt man sich: Ich kann sowieso nichts machen. Vielleicht spüren wir noch eine gewisse Ohnmacht und verlieren die Katastrophe aus den Augen, obwohl die Not dennoch da ist. Man baut sozusagen für sich selbst eine Art Schutzmechanismus auf.

Umso dankbarer sind wir für alle, die unsere Hilfe kontinuierlich unterstützen und so auch Projekte für vergessene Krisen ermöglichen.