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„Flüchtling!“ Dieses Wort ist seit Jahren in aller Munde - spätestens seitdem im Jahr 2015 hunderttausende Schutzsuchende nach Deutschland kamen und „Flüchtling“ nicht mehr ein distanziert technischer Begriff aus den Nachrichten war, sondern die Folgen von Krieg und die damit ausgelösten Fluchtbewegungen für alle sichtbar wurden. Seither wurde viel über Flüchtlinge geschrieben und geredet, vor allem über die derzeit zahlenmäßig größte Gruppe an Kriegsflüchtlingen aus Syrien.

Aber was für ein Mensch ist der typische Flüchtling und wie sieht das Leben einer Geflüchteten, eines Geflüchteten aus? Gibt es den typischen Flüchtling überhaupt? David Zorn ist bei humedica für die Flüchtlingsarbeit im Libanon verantwortlich. Er versucht sich am Tag des Flüchtlings an einer ganz persönlichen Bestandsaufnahme.

2015 - Deutschland: Hunderttausende syrische Flüchtlinge kommen in Deutschland an. Vielen von uns sind noch die Bilder vom Münchner Hauptbahnhof vor Augen, wo an einem einzelnen Tag teilweise mehrere hundert Flüchtlinge willkommen geheißen und umgehend auf ganz Deutschland verteilt werden. Die Flüchtlinge besitzen meist nur noch das, was sie bei sich tragen. Viele reisen allein und getrennt von ihrer Familie. Die traumatisierenden Erlebnisse der Flucht sind für Außenstehende nur zu erahnen. Wenigstens die lebensnotwendigen materiellen Bedürfnisse kann der deutsche Staat garantieren: Eine Unterkunft, Kleidung und Essen.

2017 - Beirut im Libanon, im Wohnzimmer meiner Wohngemeinschaft: Ich absolviere gerade ein Auslandssemester an der französischen Universität in Beirut und sitze mit meinem syrischen Mitbewohner Hussein* mit arabischem Kaffee und Brot beim Frühstück. Hussein ist vor dem syrischen Bürgerkrieg geflohen, da er sonst, wie er sagt, früher oder später gestorben wäre. Im Libanon erhalten syrische Flüchtlinge keine Unterstützung vom Staat, aber er ist froh über den Frieden, der im syrischen Nachbarland herrscht. Er nimmt jeden möglichen Job an, egal ob Barkeeper oder Lehrer für Arabisch. Das Geld reicht immer nur sehr knapp bis zum Monatsende, aber irgendwie muss es gehen.

2017 - Beirut im Libanon, ein Vorlesungssaal der Université Saint-Joseph: Zusammen mit 20 anderen Studierenden sitze ich als einziger Austauschstudent in der Vorlesung „Internationale Finanzmarktinstrumente“. Unter den Studierenden sind auch Maryam* und Elyssa*, zwei Syrerinnen. Sie machen hier ihren Bachelor in Volkswirtschaftslehre. Die beiden tragen teure Kleidung, sprechen fließend Englisch und Französisch. In Anbetracht der Tatsache, dass sie ihren ganzen Bachelor an dieser teuren Privatuniversität machen, sind sie sehr wahrscheinlich erheblich wohlhabender als ich, der sich nur mit einem Stipendium und weiterer Unterstützung gerade mal ein Austauschsemester an dieser Hochschule leisten kann. Zurück nach Syrien können die beiden nicht. Das scheint für sie allerdings kein großes Problem zu sein, denn sie planen sowieso, nach dem Studienabschluss nach Frankreich auszuwandern.

2019 - eine inoffizielle Zeltsiedlung irgendwo in der Bekaa Ebene im Osten des Libanon: Ich arbeite mittlerweile für humedica und bin verantwortlich für unser Projekt im Libanon zur Verbesserung der medizinischen Versorgung syrischer Flüchtlinge. Neben meiner Haupttätigkeit in der humedica-Zentrale in Kaufbeuren besuche ich das Projekt regelmäßig vor Ort.

Ich sitze mit Samira* in ihrem Zelt. Sie ist mit ihrer Familie aus Syrien geflohen und lebt in der syrisch-libanesischen Grenzregion. Sie erzählt mir voll Dankbarkeit über ihre Möglichkeit, als ehrenamtliche Gesundheitsmultiplikatorin in den inoffiziellen Zeltsiedlungen arbeiten zu können. Sie besucht andere Flüchtlinge in den Siedlungen und führt medizinische Dienste wie Blutdruckmessungen durch. Außerdem gibt sie ihr Wissen an andere Gesundheitsmultiplikatorinnen weiter, die die Bewohner der Siedlungen in kleinen Gruppensitzungen zu verschiedenen medizinischen Themen schulen. Diese Arbeit gibt ihr die Möglichkeit, der Flüchtlingsgemeinde zu dienen und einer sinnvollen Beschäftigung nachzugehen. Sie als Frau hat dadurch außerdem die Chance, das eigene Camp hin und wieder zu verlassen.

Die Zustände in den Camps sind prekär. Die Flüchtlinge sind gezwungen, in Zelten anstatt von festen Häusern zu leben. Die hygienischen Zustände und die Stromversorgung sind schwierig. Im Winter ist die Situation bedingt durch Schnee und Regen noch dramatischer. Sie würden gerne in ihre Heimat, nach Syrien zurückkehren, doch der andauernde Krieg und die Zerstörung der Infrastruktur des Landes machen dies unmöglich.

Wer ist nun der typische Flüchtling?

Die Antwort lautet: Es gibt ihn nicht. Die Schicksale der Menschen sind genauso divers wie diese selbst. Hinter den enormen Flüchtlingszahlen stehen einzelne Menschen mit ganz unterschiedlichen Lebenssituationen und Geschichten. Was sie eint ist die Tatsache, dass sie nicht in ihrer Heimat leben können. Ihre Bedürfnisse jedoch unterscheiden sich gravierend.

humedica unterstützt seit 2012 die Bedürftigsten der syrischen Flüchtlinge im Libanon. Im Moment helfen wir dabei, dass es sowohl für syrische Flüchtlinge in den inoffiziellen Zeltsiedlungen als auch für bedürftige Libanesen eine medizinische Versorgung gibt. Wir unterstützen lokale Gesundheitsstationen und mit unserer mobilen Klinik bieten wir vor Ort in den Camps medizinische Hilfe an. Doch wir kümmern uns nicht nur um körperliche Wunden, sondern wir helfen durch psychologische Angebote, auch bei den oft vergessenen seelischen Wunden der Flüchtlinge, die vor Krieg und Zerstörung fliehen mussten.

2019 - noch mal in der Bekaa Ebene, diesmal in der humedica Unterkunft: Wann der Krieg in Syrien vorbei ist und die Flüchtlinge zurückkehren können weiß niemand. Wir alle, Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, Aufnahmeländer und allen voran die Flüchtlinge selbst hoffen, dass dies möglichst bald der Fall sein wird. Und dann, da sind sich die internationalen Helfer hier einig, gehen wir mit nach Syrien und helfen dort beim Wiederaufbau des Landes. Bis es soweit ist, arbeiten wir weiterhin im Libanon an der Seite der Flüchtlinge.

*Namen geändert

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