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Die Not der Menschen im Kosovo ist nicht immer auf den ersten Blick erkennbar. Schließlich liegt der kleine Balkanstaat noch inmitten Südeuropas und wurde nach dem Krieg in den 1990er Jahren mit umfangreichen Subventionen wirtschaftlich gefördert. Doch der Schein trügt: Mit einer Arbeitslosenquote von über 30 Prozent, massiver sozialer Ungleichheit und einem lückenhaften Gesundheitssystem, lebt ein Großteil der Kosovaren unter schwierigsten Bedingungen.

Mit regelmäßigen Ärzteteameinsätzen sichert humedica die medizinische Grundversorgung der ländlichen Bevölkerung, die aufgrund der lokalen Gegebenheiten keinen Zugang zu ärztlichen Konsultationen und Medikamenten besitzt. Teil dieser Hilfe war die deutsche Chirurgin Caterina Schulte-Eversum. Die Eindrücke von Land und Leuten beschäftigen sie bis heute:

„Über den Kosovo wusste ich bis auf die Tatsache, dass dort vor vielen Jahren Krieg herrschte, eigentlich nichts. Als die Anfrage von humedica kam, ob jemand kurzfristig für einen Einsatz zur medizinischen Basisversorgung bereit wäre, hatte ich Zeit und sagte zu. Und so kam ich wenig später in Kosovos Hauptstadt Pristina an, die rote humedica-Mütze als Erkennungszeichen am Rucksack baumelnd.

Was würde mich wohl am Einsatzort Krushe e Vogel erwarten? Außer, dass dort wohl die meisten Kriegsopfer während des Kosovokonflikts zu verzeichnen waren, wusste ich nichts. Später würde ich erfahren, was das noch immer für das Leben der Menschen und ihre medizinische Versorgung bedeutet und auch was die Ausgrabungen der Massengräber, mit denen kurz vor meiner Ankunft begonnen wurde, für Auswirkungen hatten.

Die lokalen humedica-Mitarbeiter Alban und Korab holten mich ab. Mit ihnen würde ich die nächsten zehn Tage unterwegs sein. Die einstündige Fahrt führte uns durch grünes, von Bergen umrandetes Land. Überall entdeckte ich recht neue Häuser mit unverputzten Fassaden, die vielen alten Autos wurden immer wieder von teuren Wagen überholt, die wie ich erfuhr, in den meisten Fällen Familienangehörigen in der Schweiz oder Deutschland gehörten. Auf den Straßen tummelten sich vor allem ganz junge und ganz alte Männer. Männer mittleren Alters fehlten.

Als wir am humedica-Haus und Kindergarten in Krushe e Vogel ankamen, verschaffte ich mir erst einmal einen Überblick: Welche Medikamente und Geräte sind vorhanden? Wieviel Material liegt bereit? Und wie packe ich die Medikamentenkisten am besten? Am nächsten Morgen machten wir uns auf den Weg zu unserer ersten Station in ein Ortsteil der Roma-Minderheit. In der dortigen Gemeindehalle richteten wir unsere kleine „Praxis“ ein und los ging es.

Trotz einer nicht immer ganz leichten Verständigung waren die Beschwerden schnell klar: Viele Patienten litten unter hohem Blutdruck, Diabetes, Rückenschmerzen, immer begleitet von sichtbarer Existenzangst und großer Not. Die Einblicke in die Schicksale hinter den Menschen überwältigten mich immer wieder aufs Neue.

Am nächsten Tag arbeiten wir in einem noch ärmlicheren Roma-Dorf. Meine erste Patientin, ein süße, alte Dame mit Kopfschmerzen und Schwindel, wollte ich angesichts ihres schlechten Zustands eigentlich gleich in das nächste Krankenhaus schicken. Doch ihre Familie war so arm, dass sie sich eine Behandlung dort nicht leisten konnte, sodass wir uns darauf einigten, dass ich sie medikamentös versorgte und sie zur Kontrolle zurückkommen sollte. Die Tabletten, die ich ihr daraufhin gab, würden jedoch nur für eine kurze Zeit ausreichen. Ein grundsätzliches Problem, wie sich herausstellte.

Tief bewegt hat mich das Gespräch mit einer etwa 45 Jahre alten Frau mit ständigen Kopfschmerzen, die im Krieg ihren Mann verloren hatte, seither ihre Familie im Grunde alleine versorgt und - wie üblich - bei der Familie der Schwiegereltern lebt. Sie meinte sogar zu wissen, was sie machen könnte, um sich etwas entspannen zu können und mal aus dem Alltag auszubrechen: auf den Feldern etwas spazieren gehen. Doch aus Angst, die Leute würden glauben, dass sie sich zu viel Zeit für sich nimmt und ihren Mann nicht adäquat betrauern würde, tat sie es nicht.

Ähnliche Geschichten hörte ich bei Fragen nach Stress und Angst von vielen Frauen. Einige Männer mit Dauerkopfschmerzen oder sehr hohem Blutdruck beschrieben auf Nachfrage „unerklärliche“ Wutausbrüche. Andere Patienten kamen bereits mit den Ergebnissen von Voruntersuchungen zum „German doctor“, um alles einmal überprüfen zu lassen. Andere kamen, um ihre Medikamente aufgefüllt zu bekommen. Manche suchten auch Hilfe bei der Beschaffung teurer Arzneimittel, wie etwa ein Vater einer mit Antiepileptika behandelten Tochter.

Viele Patienten litten bereits seit zehn Jahren unter anhaltenden Kopf-, Nackenschmerzen und Wutausbrüchen. Die für mich schlimmste Lebensgeschichte erfuhr ich von einer alten Frau. Sie hatte ihren Mann und vier ihrer sechs Söhne im Krieg verloren. Die Leiche eines Sohns wurde noch im Krieg geborgen, eine zweite wurde vor kurzem im Rahmen der Ausgrabungen der Massengräber identifiziert. Zwei weitere fehlen noch. Von ihren beiden noch lebenden Söhnen ist einer dialysepflichtig, der andere hat Krebs. Was soll ich da sagen? Was tun? Ich weiß es nicht.

Obwohl die meisten Menschen unter einem ähnlichen Schicksal leiden, schien niemand über seine Probleme, Verluste oder Ängste zu sprechen. Ein Eindruck, den mir mein lokaler Kollege bestätigte, als er mir erzählte, dass es keinerlei psychologische Beratungen, Therapiemöglichkeiten, Selbsthilfegruppen oder ähnliches für die Menschen gibt.

Was bedeutete dieser Einsatz schließlich für mich? Das Wichtigste ist es wohl, als Mensch für die Kosovaren da zu sein. Obwohl die meisten Patienten, die ich behandeln konnte, weitere medizinische Hilfe benötigen werden, ist das allergrößte Problem ein anderes: die psychologischen Traumata in dieser frühen Nachkriegszeit. Gerade während meines Einsatzes war diese Problematik aufgrund der Ausgrabungen der Massengräber hoch akut.

Mit Hilfe meines einfühlsamen Übersetzers Korab habe ich versucht, den Menschen, die ich gesehen habe zuzuhören, ihnen zu vermitteln, dass zu leben und sich auch mal Zeit für sich zu nehmen, nicht bedeutet, dass sie ihre Angehörigen nicht betrauern, und dass Schmerzmittel oder teure Blutdruckmedikamente nicht die Lösung sind. Für langfristige Hilfe braucht es muttersprachliche Psychologen, Psychosomatiker oder Gesprächsgruppen.

Die medizinische Behandlung durch humedica ist ein erster Schritt, schenkt Hoffnung und zeigt den Menschen, dass sie wichtig sind und man sie unterstützen will. Dankbar sind die Kosovaren auf jeden Fall. Sinnbildlich dafür steht eine Frau, die wir an einem Morgen behandelten und die mittags zurückkehrte, um uns etwas zu Essen zu bringen. Extra für uns hatte sie zwei Portionen selbstgemachtes Brot, Käse und Peperoni dabei. Ein leckeres Dankeschön.“

Bis die Menschen im Kosovo die körperlichen und psychischen Folgen des Kriegs überwunden haben, werden noch Jahre vergehen. Umso wichtiger ist es, ihnen während dieser Zeit zu zeigen, dass sie nicht alleine sind und Hilfe existiert. Vor diesem Hintergrund bitten wir Sie herzlich, unsere Arbeit im Kosovo mit einer konkreten Spende zu unterstützen. Vielen Dank!