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Seit vier Jahren zwingt der immer brutaler und auswegloser werdende syrische Konflikt seine Bevölkerung zur Flucht. Fernab ihrer Häuser und Städte sind die Syrer gezwungen, die Zerstörung ihrer Heimat, einst kulturelles Mekka des Nahen Ostens, mitanzusehen. Wann sie nach Syrien zurückkehren können, vermag niemand zu sagen. Viel mehr drängt sich das „ob“ dieser Frage auf. Und so leben inzwischen fast vier Millionen Syrer in den angrenzenden Ländern Libanon, Türkei, Jordanien und Irak, zum Teil unter menschenunwürdigen Bedingungen.

Was macht so ein Leben mit einem Menschen? Mit einer Mutter, die Mann und Söhne in den Kämpfen verloren hat? Mit einem Kind, dem ein übergeordneter Konflikt die Zukunft raubt? Was macht die Existenz von Millionen Flüchtlingen mit einem kleinen Land, wie dem Libanon? Wann ist die Schmerzgrenze erreicht?

Die neue humedica-Reihe „Facetten des Krieges“ beleuchtet diese Fragen, gibt den Flüchtlingen ein Gesicht und erklärt die Schlagkraft eines Konflikts dieses Ausmaßes. Den Auftakt macht ein Bericht von humedica-Koordinatorin Steffi Gentner aus dem Libanon. Als Leiterin der medizinischen Hilfsmaßnahmen für die syrischen Flüchtlinge im Osten des Landes, wirft sie einen Blick auf die vor Verantwortung für die Einwanderer ächzenden politischen und sozialen Strukturen des Libanons und skizziert das Bild eines Staates, der seine zumutbare Schmerzgrenze eigentlich schon lange überschritten hat.

Libanon: Ein Land am Rande der Belastbarkeit

Was wir aus dem libanesischen Bürgerkrieg und dem anhaltenden Syrienkonflikt gelernt haben

„Um die aktuelle Situation des Libanons besser darlegen zu können, stützen sich folgende Ausführungen auf die Gedanken von David Miliband, Vorsitzender der Hilfsorganisation IRC, die er in dem Artikel ‚What we didn’t learn from Lebaon’s civil war‘ für den arabischen Nachrichtensender Al Jazeera ausformulierte.

15 Jahre lang tobte in den 1970er und 1980er Jahren im Libanon ein Bürgerkrieg, der 150.000 Menschen das Leben kostete. Fährt man durch das heutige Beirut, sind die Einschussspuren noch an manchen Gebäuden eindrucksvoll und zugleich mahnend sichtbar. Obwohl das Land wegen ausbleibender Parlamentswahlen und einer präsidentiellen Vakanz seit über einem Jahr politisch still steht, ist es einer der stabileren Staaten der Region.

Doch durch den Zustrom von inzwischen weit über einer Million syrischer Flüchtlinge zwingt sich die Frage auf, was getan werden muss, damit sich dieses Land nachhaltig entwickeln kann, oder wie es die Belastung, das jeder vierte Mensch inzwischen ein Flüchtling ist, vergleichsweise unbeschadet übersteht.

Ende Februar dieses Jahres übernahm ich die Koordinatorenstelle des humedica-Nothilfeprojekts im Libanon. Dank meiner Vorgängerin Susanne Carl, des lokalen Teams vor Ort und der ehrenamtlichen Einsatzkräfte aus Deutschland, konnte die Unterstützung für die syrischen Flüchtlinge stetig ausgeweitet werden. Nun wurden die Hilfsmaßnahmen, dank der Unterstützung des Auswärtigen Amts der Bundesrepublik Deutschland, erneut für ein Jahr verlängert.

Der Libanon gilt besonders in der westlichen Öffentlichkeit als gefährliches Land, ich aber habe seit meiner Ankunft eher einen Eindruck der attestierten Widerstandsfähigkeit der Einheimischen bekommen. Ganz gleich ob es ihre Armut, ihren Wohlstand oder ihren Stolz betrifft. Es ist diese Stärke, die ein Land, wie den Libanon, mit 18 anerkannten Religionsgemeinschaften und einem großen Armutsgefälle, prägt und zusammenhält.

Die dennoch existierenden, politischen und innergesellschaftlichen Spannungen werden durch den Zustrom der Flüchtlinge nicht gemindert. Auch die Infrastruktur, wie etwa die Wasserversorgung, der Wohnraum und das Bildungs- und Gesundheitssystem, kommt immer mehr an ihre Grenzen. Besonders sichtbar wird diese Problematik in den informellen Zeltsiedlungen, die den syrischen Flüchtlingen temporär Zuflucht bieten sollen und in denen humedica neben weiteren humanitären Akteuren die medizinische Grundversorgung sichert. Weil die palästinensischen Flüchtlingscamps in Folge der Nakba im Jahr 1948 bis heute existieren, sind die syrischen Lager nun bewusst informell angelegt.

Neue administrative Maßnahmen in Bezug auf Visaanträge oder Arbeitserlaubnisse enden für gewöhnlich in einer Verschärfung bereits bestehender Regelungen und bergen die Gefahr in sich, dass Flüchtlinge in den Untergrund getrieben werden. Der Blick auf die Zahlen stimmt ebenso wenig hoffnungsvoll. Bisher wurden gerade einmal 18 Prozent der veranschlagten Gelder für die diesjährige Unterstützung der Flüchtlinge generiert.

Es stellt sich also die wesentliche Frage, wie mit dem neuen syrischen Bevölkerungsanteil weiter umzugehen ist? Wissend, dass es für sie in Syrien kein Zuhause mehr gibt, der Krieg in absehbarer Zukunft nicht enden wird und daher die Nothilfeprogramme im fünften Krisenjahr auf Entwicklungsprogramme umschwenken. Zudem gilt es, den Export von radikalen Gruppierungen zu verhindern, die versuchen, den Libanon von Syrien aus zu infiltrieren.

Solange dieser Krieg anhält, der bis März 2015 fast 50 Prozent der syrischen Bevölkerung heimatlos werden ließ, der 4.000 Schulen, 1.500 Andachtsstätten, 290 Kulturbauten und die Hälfte der größten syrischen Städte zerstörte, bedarf es einer neuen Dimension der humanitären Hilfe. Kinder müssen in die Schule gehen können, damit aus ihnen keine verlorene Generation wird. Die Jüngsten von ihnen kennen nichts anderes als Krieg.

Ihre Eltern müssen als Beitragende in das lokale Wirtschaftssystem integriert werden. Insbesondere seit erwiesen ist, dass humanitäre Bemühungen einen begünstigenden, wirtschaftlichen Einfluss haben: Die Untersuchung eines UN-Projekts, das 90.000 Flüchtlingsfamilien im Bekaa Tal während des harschen Winters monatlich 100 Dollar zukommen ließ, kam zu dem Ergebnis, dass bei jedem Dollar der an die Flüchtlinge gerichtet war, gleichzeitig 2,13 Dollar in die lokale Wirtschaft flossen.

Ein wirtschaftlicher Nettogewinn und eine Erfolgsgeschichte, die dem Argument, die syrischen Flüchtlinge nehmen den Libanesen die Arbeitsplätze weg, die Stirn bietet. Auch wer eine andere Meinung zu diesem Thema vertritt, muss den Fakt anerkennen, dass beide Bevölkerungsgruppen im Moment Teil der gleichen Wirtschaft sind und gemeinsam die Zukunft eines gemeinsamen Landes gestalten.

Und diese Gegebenheiten sind weder Syrern noch Libanesen fremd. Schon vor Kriegsausbruch arbeiteten viele Flüchtlinge regelmäßig als Landarbeiter im Libanon. Die libanesische Wirtschaft war in der Vergangenheit auf syrische Arbeitskräfte angewiesen und ist es auch heute noch.

Angesichts des vierzigsten Jahrestags des libanesischen Bürgerkrieges und dem vierten Kriegsjahr des Syrienkonflikts, gilt es für alle Beteiligten, aus der Vergangenheit zu lernen. Oder wie es David Miliband, formuliert: “As the Syrian crisis becomes background music to the headlines of war in Iraq and Yemen, it is vital not to lose sight of a simple truth: Humanitarian misery becomes a source of political instability if it is allowed to fester.”

Seit 2012 realisiert humedica medizinische Hilfe für syrische Flüchtlinge in Libanons Osten. Eine Arbeit, die aufgrund der Dauer des Konflikts und des fehlenden medialen Momentums kaum Unterstützung durch private Spender findet. Bitte werden Sie Teil dieser wichtigen Hilfe und stehen Sie den syrischen Flüchtlingen mit einer konkreten Spende bei. Vielen Dank!

Dieser Artikel enthält Informationen von Al Jazeera und UNOCHA.