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Humanitäre Hilfe heißt für viele Helfer ihr Leben im Heimatland aufzugeben, dies kann für einen kurzen Zeitraum sein oder ein ganzes Leben. Weit weg von ihrer Heimat bauen sie sich ein neues Leben auf, heiraten, bekommen Kinder. Und das Leben geht weiter. Die Kinder wachsen in zwei Kulturen auf, lernen die Sprache der Eltern, deren Heimat sie aus seltenen kurzen Besuchen kennen, gleichzeitig ist die eigene Heimat nah, und emotional doch fern. Im humedica-Team finden sich immer wieder Mitarbeiter, die dieses Phänomen aus eigener Erfahrung kennen, zum Beispiel Benjamin Kern.

Benjamin ist 25 Jahre alt. Seit fast einem Monat arbeitet er in der humedica-Zentrale in Kaufbeuren als eine Art Praktikant. Sechs Monate lang soll Benjamin alle Abteilungen durchlaufen, humedica gründlich kennenlernen, um später in verantwortlicher Position bei humedica Indien mitarbeiten zu können. Die noch junge Tochterorganisation unterstützt Krankenhäuser und Schulen, arbeitet eng mit lokalen Organisationen zusammen.

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Zurzeit lernt er die Abteilung für Internationale Projektplanung kurz IPP kennen. Noch ist es ein Eingewöhnungsprozess, sagt er. Täglich trifft er neue Menschen, ist interessiert an allen Aufgaben, versucht alles zu verinnerlichen und zu reflektieren. Ein spannender Blick hinter die Kulissen einer humanitären Organisation.

Gesucht wird in Indien jemand, der sich in der deutschen, sowie in der indischen Kultur auskennt und damit einen Zugang zur indischen Bevölkerung und ihrer Denkweise hat. Benjamin scheint dafür besonders prädestiniert, wurde ihm soziale Hilfe doch schon in die Wiege gelegt.

Seine Eltern Ulrike und Louis Paul Kern, sie eine Deutsche, er Inder, betreiben seit 26 Jahren das Peniel Social Institute, eine Einrichtung zu der zwei Schulen und ein Kinderheim im südindischen Kolar Gold Fields, in einer besonders strukturschwachen Region, gehören. Seit über zehn Jahren kennen sie humedica-Geschäftsführer Wolfgang Groß und werden von humedica unterstützt.

Die ersten acht Jahre seines Lebens wuchs Benjamin zusammen mit den Kindern aus dem Kinderheim auf, lernte die einheimische Sprache Kannada. In seiner Familie wurde von Seiten des Vaters, der zur Volksgruppe der Tamilen gehört, Tamil gesprochen.

Mutter Ulrike achtete gleichzeitig darauf, Benjamin und seinen zwei jüngeren Schwestern deutsch nahe zu bringen. Die sprachliche Versorgung war komplett, als er im Alter von acht Jahren in ein britisches Internat eingeschult wurde und Englisch hinzukam.

Er selbst sieht seine Zeit im Internat als großes Privileg an. Zwar war er schon in jungen Jahren von Familie und Freunden getrennt, wurde jedoch früh in ein internationales Umfeld eingeführt. Denn Kinder aus über 60 Nationen besuchten seine Schule mit dem unterschiedlichsten Hintergrund. Kinder von Politikern, Geschäftsleuten, Schauspielern, Sozialarbeitern, mit indischen, westlichen, ostasiatischen Elternteilen, alles sehr gemischt und multikulturell.

Früh setzt er sich, wie viele seiner Mitschüler, mit dem Thema Identität und Kultur auseinander. Selbst bezeichnet er sich als Third Culture Kid (TCK), als jemand der von drei Kulturen gleichzeitig geprägt wurde.

Der indischen Kultur seiner Kindheit und seines Vaters, der Deutschen seiner Mutter und dem Englisch-Britischen seiner Peers, wie Psychologen Einfluss ausübende Umgebungsfaktoren nennen. Eine Prägung, die sich nach zehn Jahren in einem britischen Schulsystem eingebrannt hat. Benjamin ist zur Hälfte Deutscher, doch sogar seine Mutter hat sich im Laufe ihrer 26 Jahre in Indien der indischen Kultur stark angepasst.

Nach seinem Schulabschluss beginnt er im Alter von 18 Jahren ein Studium der evangelischen Theologie in Deutschland, auch auf Wunsch seiner Eltern.

Deutschland, das er nur aus einigen drei- bis sechswöchigen Besuchen kannte, das ihm aufgrund seiner sauberen Straße und des Reichtums wie eine Illusion vorgekommen war, irgendwie künstlich, wie eine Fernsehwerbung, wurde seine neue Heimat.

Die erste unerwartete Hürde waren dann tatsächlich seine Deutschkenntnisse, die für ihn Teil seiner deutschen Identität ausgemacht hatten und nun nicht mehr ausreichten. So war er die ersten sechs Monate damit beschäftig, seine Sprachkenntnisse aufzubessern und fühlte sich ansonsten in seinem kleinen württembergischen Studienort sehr wohl.

In kurzer Zeit setzte ein Kulturschock ein, den er sich selbst nicht eingestehen wollte. Rieb sich doch seine indische Identitätshälfte mit der deutschen. Immer wieder stellte er sich die Frage: „Kann ich deutsch sein? Wie weit will ich deutsch sein?“.

Der Wunsch, Theologie zu studieren zeugte auch von seinem Bedürfnis, sich näher mit den christlichen Werten seiner Familie auseinanderzusetzen. Auch das eine Suche nach der eigenen Identität. In diesem Kontext war es auch, dass er von einem Mentor ein Buch über Third Culture Kids bekam und schnell feststellte, dass er nicht alleine war mit seinen seltsam anmutenden Identitätsfragen.

Nach zwei Jahren in Deutschland hat Benjamin für sich ausreichende Antworten gefunden. Das Theologiestudium, das sich nicht nur mit Religion, sondern auch intensiv mit Glaube und dem Menschen auseinandersetzt, wirkte bei seinem Findungsprozess als Katalysator, hilfreiche Betrachtungsweisen halfen, weiterhin existente kulturelle Spannungen abzubauen.

Heute stellt er fest: „Meine Suche nach kultureller Identität hört nie auf. Ich fühle mich aber nicht dazu gezwungen, eine Entscheidung zu treffen und direkte Antworten zu finden.“ Und augenzwinkernd fügt er hinzu: “Dadurch bleibt das Leben spannend.“

Die Herausforderung für Benjamin ist es, das Beste aus den Welten zu vereinen. Deutsche Zielstrebigkeit mit indischer Flexibilität und dem unbesiegbaren Gemeinschaftsgefühl. Beste Voraussetzungen für eine Vermittlung zwischen den Welten!