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Für Beobachter scheint die Taifunkatastrophe auf den philippinischen Inseln Leyte und Samar bereits lange vorbei. Die Erde hat sich weiter gedreht, neue Schlagzeilen erregen das öffentliche Interesse und andere humanitäre Missstände drängen sich in den Vordergrund. Das Leben geht weiter, doch für die betroffenen Menschen auf den Philippinen ist auch heute, genau einhundert Tage nach „Haiyan“, nichts mehr wie zuvor.

Blicken Sie mit uns auf die vergangene Zeit nach der Katastrophe zurück. Erfahren Sie, wie humedica-Einsatzkräfte ihre Zeit in der besonders betroffenen Stadt Tacloban erlebt haben, wie sich die Lebensumstände der Menschen dort heute gestalten und welche Hilfsmaßnahmen humedica in den nächsten einhundert Tagen plant.

Beginnen möchten wir mit einem aktuellen Bericht der humedica-Koordinatorin Alexandra Vlantos. In Tacloban organisiert die 31-Jährige neben medizinischen Versorgungsmaßnahmen auch die Verteilung von Hilfsgütern.

100 Tage nach "Haiyan“ – der Beginn einer neuen Zeitrechnung

„Seit Anfang Januar bin ich nun auf den Philippinen. Ich war nicht hier, als in der Stadt Tacloban der Taifun wütete, als Dächer, Autos, ja ganze Häuser durch die Luft flogen, als das Wasser meterhoch in den Gebäuden stand und Menschen um ihr Leben schwammen.

Auch habe ich nicht miterlebt, wie groß die Zerstörung zunächst war, wie der Geruch von Leichen in der Luft schwebte, wie es tagelang kaum Nahrungsmittel gab und wie verzweifelte Menschen in großen Lettern „we need food“ oder „help us“ auf ihre Dächer schrieben.

Hundert Tage später ist ein klein bisschen Normalität in die Katastrophenregion zurückgekehrt. Die akute Notsituation ist vorüber, sagt auch die Regierung. Die Verwundeten konnten medizinisch versorgt werden, Nahrungsmittelverteilungen finden statt. Jeden Tag kann man zahlreiche Menschen dabei beobachten, wie sie unermüdlich Stück für Stück ihrer Stadt von Trümmern und Müll befreien.

Die meisten Familien haben bei Verwandten oder in einem Zelt Unterschlupf gefunden. Unentwegt sieht man viele von ihnen in dem Schutt nach brauchbarem Baumaterial suchen. Ein Mann biegt verbogene Nägel mit einem Hammer gerade, um sie wiederverwenden zu können. Im Zentrum öffnen immer mehr Geschäfte, Restaurants und Banken ihre Pforten.

Große Teile der Stadt sind wieder mit Strom versorgt. Sogar die von den Philippinos so heiß geliebten Karaokebars gibt es wieder. Ist also ein Stück Alltag in das Leben der vom Taifun so schwer betroffenen Frauen, Männer und Kinder zurückgekehrt?

Wohl kaum. Blickt man hinter das Lächeln der Menschen, erkennt man selbst in den flüchtigsten Gesprächen die noch immer andauernden Auswirkungen der Katastrophe. Von der Frage nach einer Bäckerei, bis hin zu einem einfachen „How are you?“ enthält jeder Satzwechsel den Ausdruck „vor Haiyan“ oder „seit Haiyan“. Es scheint, als ob nach dem Supertaifun eine neue Zeitrechnung angebrochen ist.

„Seit Haiyan“ wohnen tausende Familien in den Evakuierungszentren der Stadt. Erst nachdem die Aufräumarbeiten fortgeschritten waren, konnten die Schlafbaracken aus Holz errichtet werden. Die erste Siedlung wurde vergangene Woche eröffnet. 177 Familien wohnen schon dort.

Die drei mal vier Meter kleinen Räume sollen vier Personen beherbergen. Die eng an eng stehenden Baracken umfassen je zehn dieser winzigen Zimmer. Auch gibt es kaum Platz um sich draußen aufzuhalten. Jeden Atemzug, jede Bewegung, jedes Wort – die Nachbarn hören alles.

humedica führt einmal in der Woche eine medizinische Versorgung in den Baracken durch. Als ich mich zwischen den engen Räumen umsehe, höre ich plötzlich großen Lärm aus einem der kleinen Zimmer. Ich blicke hinein und sehe zwei Kinder, die lachend von einer Wand zur anderen rennen und sich mit voller Wucht dagegen fallen lassen.

In dem engen Gang davor werden Matratzen, Kochtöpfe und Plastikstühle vorbei getragen. Dazwischen fährt ein Junge Fahrrad. Es ist eng und laut, aber es ist endlich ein neues Zuhause und ein trockenes Dach über dem Kopf.

Während unseres ersten Besuchs treffe ich auf Ernesto und seinen Vater John. „Seit Haiyan“ leiden sie unter Schlaflosigkeit. Mehr sagen sie nicht. Erst bei genauerem Nachfragen erfahren wir ihre Geschichte: Durch den Taifun hat Ernesto seine Mutter, seine drei Geschwister und seine Großeltern verloren. All sie sah sein Vater John sterben. Hochgradig traumatisiert muss er nun auf das körperliche und seelische Wohlergehen seines nun einzigen Kindes achtgeben.

Glücklicherweise haben nicht alle Betroffenen eine so tragische Geschichte. Dennoch ist die Existenzangst allgegenwärtig. „Ich habe lange überlegt ob ich in die Bunkersiedlung kommen soll“, erzählt mir die junge Mutter Gina.

„‚Vor Haiyan‘ haben wir in Hafennähe gewohnt. Ich hatte dort einen kleinen Verkaufsstand, mein Mann hat am Hafen gearbeitet. Nun ist dort alles zerstört. Wir haben keine Kunden mehr und unser Haus besteht nur noch aus Trümmern.“

Neben ihr steht ihre kleine Tochter Aireen. Die Schule, die sie besucht hat, wird ‚seit Haiyan‘ als Evakuierungszentrum benutzt. Normalität kann erst dann zurückkehren, wenn der Alltag wieder Einzug hält, die Kinder in die Schule gehen können und ihre Eltern eine Arbeit haben. Davon ist Aireens Familie noch weit entfernt. Wie es weiter geht, weiß hier keiner.

„Ich habe mich entschieden in diese Siedlung zu kommen, weil es ein erster Schritt in Richtung Alltag ist. Unser Leben wird nie mehr so werden wie ‚vor Haiyan‘.“ Die Tränen in Ginas Augen spiegeln die harte Realität dieser Erkenntnis wieder. In ihr altes Haus wird die Familie nicht zurückkehren können.

Um die Bevölkerung vor weiteren Katastrophen zu schützen, hat die Regierung entschieden, entlang der Küste eine vierzig Meter breite Bauverbotszone einzurichten. Doch auch in den Baracken wird die Familie nicht bleiben, denn die Behörden planen eine große Umsiedlung in den Norden von Tacloban. Dort sollen permanente Häuser für die Betroffenen gebaut werden.

All dies wird dauern. Eine neue Zeitrechnung hat begonnen. Von der Normalität und Selbständigkeit, die die Menschen kannten, sind sie jedoch noch weit entfernt.“

Einhundert Tage nach der Taifunkatastrophe ist die Thematik nahezu gänzlich aus der medialen Berichterstattung und damit der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden. Für die Menschen auf den Philippinen hat sich jedoch eine neue Realität ergeben. Eine Realität, in der wir den Betroffenen weiterhin mit gezielten Hilfsmaßnahmen zur Seite stehen möchten.

Bitte unterstützen Sie humedica mit einer konkreten Spende oder übernehmen Sie eine ">Familienpatenschaft und begleiten Sie Leidtragende in eine Zukunft voll neuer Hoffnung. Vielen Dank!

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